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Erst lehrte sie die Tech-Riesen das Fürchten, nun legt sich Margrethe Vestager auch mit Europas politischer Spitze an. Dabei will die Wettbewerbskommissarin doch eigentlich nächste Kommissionspräsidentin der Europäischen Union werden. Manche würden die Dänin streitbar nennen, andere willensstark. Was stimmt?
*Im Mai 2019 zierte Margrethe Vestager das Cover unseres Magazins. Die Wettbewerbskommissarin der Europäischen Union machte sich mit ihrer harten Linie einen Namen. Als wir den Text abdruckten, war das Rennen um den Posten der EU-Kommissionspräsidentin gerade erst eröffnet – letztendlich entschied jedoch die Deutsche Ursula von der Leyen die Wahl für sich.
Schon jetzt ist sie eine der mächtigsten Frauen Europas. Wie gross diese Macht tatsächlich noch werden könnte, wird sich aber erst zeigen. Denn Margrethe Vestager, ehemalige stellvertretende Regierungschefin Dänemarks und seit 2014 Kommissarin für Wettbewerb in der Europäischen Union, will nun die erste weibliche EU-Kommissionspräsidentin werden. Ihr öffentliches Profil schärfte die Dänin vor allem durch ihr hartes Durchgreifen gegen US-Tech-Riesen wie Google, Apple und Facebook. Erst kürzlich verhängte sie am 20. März neuerlich eine Wettbewerbsstrafe von 1,49 Milliarden € gegen Google – die dritte gegen das Unternehmen innerhalb von weniger als zwei Jahren. Als EU-Kommissionspräsidentin würde sie über die politische Agenda zur Wahrung des europäischen Gemeinwohls bestimmen, sprich: Vestager gäbe die Richtung im Rahmen des EU-Exekutivorgans vor. Und das in einer Zeit, in der die Europäische Union eine klare Linie oft sträflich vermissen lässt, etwa hinsichtlich Klimawandel, Migration, Sicherheit oder Digitalisierung.
Margrethe Vestager ist das Cover der Mai-Ausgabe 2019 „Europa“.
Doch diese Entscheidung steht erst an. Bis dahin hat die Wettbewerbshüterin aber sowieso alle Hände voll zu tun. Gegen Amazon laufen etwa vorläufige Untersuchungen (bezüglich der Nutzung von Daten aufgrund der „Doppelnatur“ als Produktanbieter und Händlerplattform), im Fall von Daimler, VW und BMW sieht die Kommissarin illegale Absprachen zu Abgasnachbehandlungen als erwiesen an. Die Meinungen über die Wettbewerbshüterin gehen diametral auseinander: In Brüssel und Europa wird sie als Powerfrau und eine Art Superstar angesehen. Jenseits des Atlantiks soll sie US-Präsident Donald Trump einmal als „tax-lady that hates the US“ bezeichnet haben. Von Macht- oder Rachegelüsten ist bei Vestager jedoch wenig zu spüren. Als wir sie an diesem Mittwochvormittag in ihrem Büro im Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der Europäischen Kommission, treffen, lächelt die Berufspolitikerin freundlich. Ein bunter Teppich sowie zahlreiche Bilder und Familienfotos lassen das Gefühl aufkommen, dass Vestager es abseits des Drucks gerne gemütlich hat – „hyggelig“, wie die Dänen sagen würden.
Vestager wirkt, wie ihr Ruf es vermuten lässt: locker und offen, aber präzise und bestimmt. Die Spitzenpolitikerin blickt zu einem grossen Bild links neben der Eingangstür. Darauf zu sehen ist ein Sammelsurium an Farbklecksen, in der Mitte ein blauer Kreis mit gelben Sternen, der an die Europaflagge erinnert. „Love, Color, Revolution, People“ steht darauf geschrieben. „Das ist für mich Europa“, sagt Vestager. Politisch steht die Tochter zweier Pastoren für ein starkes, wettbewerbsfähiges, digitales und faires Europa. Die Einhaltung der Steuergesetzgebung hat es ihr angetan, zudem spricht sich Vestager – wenig überraschend – für schärfere Wettbewerbsregeln für Tech-Konzerne aus. Doch wie würde die EU in Zukunft aussehen mit Vestager in einer Spitzenposition? Und welche Kompetenzen bringt sie mit, um die Herausforderungen der Union nachhaltig zu lösen?
Die fünf höchsten Strafen aufgrund von Kartellabsprachen und Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung
Eine klare Linie
Rückblick: Oktober 2014. Vestager spricht als designierte EU-Wettbewerbskommissarin im Europaparlament. „Ich werde allen zuhören, von den grössten multinationalen Unternehmen bis zu den Vertretern kleiner Unternehmen, vom Staat bis zum Bürger. Aber die Analysen meiner Mitarbeiter und mein eigenes Urteil werden von niemandem beeinflusst werden.“ Primär geht es in Vestagers Position darum, für offene und faire (europäische) Märkte zu sorgen sowie Wettbewerbsverstösse zu ahnden. Doch Vestager begreift ihren Job weitreichender. „Fairness bedeutet für mich, dass Unternehmen in der Sache konkurrieren. Sie sollen ihre Kunden respektieren und wissen, dass der Markt den Kunden dient – nicht umgekehrt. Unternehmen konkurrieren beim Preis, den Dienstleistungen, bei der Qualität ihrer Produkte und der Innovation, die sie hervorbringen. Die Preise sollen nicht in Hinterzimmern vereinbart werden“, sagt Vestager. Werde der Konsument fair behandelt, habe dies auch gesellschaftliche Konsequenzen. „Menschen fühlen sich wohl, geachtet und gleichberechtigt.“
Margrethe Vestager
... wuchs in Glostrup, Dänemark, auf. Von 2011 bis 2014 war sie Wirtschafts- und Innenministerin sowie Vizeregierungschefin Dänemarks. Seit 2014 ist sie EU-Wettbewerbskommissarin. Nun will sie nach den Europawahlen neue EU-Kommissionspräsidentin werden.
In Vestagers Augen ist Google dieser Verantwortung nicht immer nachgekommen. Im Sommer 2018 verhängte die Spitzenpolitikerin eine Rekordstrafe von 4,3 Milliarden € gegen Google – aufgrund „illegaler Beschränkungen“ für die Nutzung des mobilen Betriebssystems Android. Derartige Kartellstrafen können durchaus hart ausfallen – bis zu 10 % des Jahresumsatzes, und zwar weltweit. Googles Umsatz 2017 betrug 110,3 Milliarden US-$ (98,5 Milliarden €). Vestager warf dem Internetriesen vor, dass Handyhersteller, die das Open-Source-System Android installieren, immer ein komplettes App-Paket von Google (etwa Google Chrome) auf das Gerät bringen müssten (nämlich dann, wenn sie einzelne Google-Dienste wie „Play Store“ vorinstallieren wollen). Zudem habe Google Zahlungen an bestimmte grosse Hersteller und Mobilfunknetzbetreiber geleistet, wenn diese ausschliesslich die Google-Suche auf ihren Geräten vorinstallierten. Die EU-Kommission ging davon aus, dass Google auf dem Weltmarkt für lizenzierbare Smartphone-Betriebssysteme einen Marktanteil von 95 % besitzt – und diese marktbeherrschende Stellung missbraucht hat. Mitbewerber seien somit nicht mehr in der Lage, zu konkurrieren.
Fairness bedeutet für mich, dass Unternehmen in der Sache konkurrieren. Sie sollen ihre Kunden respektieren und wissen, dass der Markt den Kunden dient – nicht umgekehrt.
Allmächtige Tech-Riesen
Doch nicht nur Google stand auf Vestagers Liste. Auch Facebook und der US-amerikanische Halbleiterhersteller Qualcomm mussten Strafen wegen Wettbewerbsverstössen zahlen. Insgesamt gehen vier der fünf höchsten Kartellstrafen der EU-Kommission auf Vestagers Kappe. Die Dänin kämpft gegen Dimensionen, die nie zuvor da gewesen sind – denn die Technologiegiganten profitieren von extremen Skalenerträgen, Netzwerkeffekten und der Datenhoheit zur Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen. Die Marktkapitalisierung von Facebook, Amazon, Netflix und Google beträgt über vier Billionen € (2,3 Billionen US-$); wenn man Apple und Microsoft dazurechnet, wächst der Börsenwert auf rund 3,5 Billionen € (vier Billionen US-$). Doch wie unterscheiden sich die digitalen Unternehmen von früheren Giganten wie John D. Rockefellers Standard Oil Company, die bis zu ihrer Zerschlagung durch den Staat 1911 das grösste Erdölraffinerieunternehmen der Welt war? „Einer der entscheidenden Unterschiede ist die Geschwindigkeit, mit der sie (Tech-Riesen, Anm.) arbeiten. Ein weiterer betrifft den Umstand, dass sie in gewisser Weise allmächtig geworden sind. Denn diese Unternehmen sind in der Lage, nicht nur den Markt, in dem sie tätig sind, zu beeinflussen, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen und das Individuum. Zudem haben sie Auswirkungen darauf, wie unsere Demokratien funktionieren“, sagt Vestager.
Die Richtung des gesellschaftlichen Zusammenlebens sollten laut der Dänin aber der Gesetzgeber und gewählte Politiker vorgeben – nicht Wirtschaftsriesen. Dennoch befürwortet die Wettbewerbskommissarin keine Zerschlagung, wie es zuletzt die demokratische US-Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren oder Facebook-Mitgründer Chris Hughes forderten. Vielmehr müssten sich Tech-Grössen ihrer Verantwortung bewusst sein.
Margrethe Vestagers Weg
Obwohl Vestager kürzlich auf die „Top 50 Women In Tech“-Liste von Forbes gewählt wurde, sind Technologiethemen eigentlich gar nicht Vestagers Metier. Die 51-Jährige wuchs in einem Pfarrhaus als ältestes von vier Geschwistern in Glostrup auf. Nach ihrem Schulabschluss trat sie in die sozialliberale Partei Radikale Venstre (RV) ein, die ihr Urgrossvater mitbegründet hatte. Mit gerade einmal 29 Jahren wurde Vestager 1998 zur jüngsten Ministerin aller Zeiten in Dänemark (für Bildung). Von 2011 bis 2014 bildete sie mit der sozialdemokratischen Helle Thorning-Schmidt ein eingespieltes Duo: Vestager als Wirtschafts- und Innenministerin sowie Vizeregierungschefin, Thorning-Schmidt als Ministerpräsidentin.
2014 folgte dann der Ruf aus Brüssel. Dort fiel die Liberale von Beginn an durch ihre direkte Art auf. „Wenn man Dänen zum ersten Mal trifft, könnte man sie erst einmal für unhöflich halten. Wir sind sehr direkt“, lächelt Vestager. Doch der Eindruck, dass Vestager primär US-amerikanische Tech-Unternehmen unter die Lupe nimmt, täuscht. Die Politikerin konfrontierte etwa auch Unternehmen wie den Ölkonzern Gazprom, die Fluglinie Cyprus Airways oder Telefónica Deutschland (die EU-Kommission übermittelte erst kürzlich die Beschwerdepunkte) mit deren Fehlverhalten.
Der berufliche Aufstieg von Margrethe Vestager
Gegen den Strom
Richtig hoch gingen die Wogen in Europa dann aber im Rahmen der geplanten Fusion von Siemens und dem französischen Transportkonzern Alstom. Die Konzerne einigten sich Ende 2017 darauf, ihre Bahnsparten zusammenzulegen. Die politischen Spitzen in Berlin und Paris setzten sich für den Zusammenschluss zur Schaffung eines „Airbus auf Schiene“ ein – denn gegen den weltgrössten Bahnkonzern, die in Staatshand befindliche CRRC Corporation Limited aus China, müsse man sich wappnen, so der Tenor. Alle waren sich einig. Und Vestager? Die verbot die Fusion. Bei der Signaltechnik hätten die beiden Unternehmen nach einem Zusammenschluss auf bestimmten Märkten einen Marktanteil von über 90 % gehabt – zu viel für die Dänin, die keine steigenden Preise für Kunden riskieren wollte. Die Enttäuschung war gross. Siemens-Chef Joe Kaeser räumte per Twitter ein, dass Vestager „technisch recht“, „für Europa (aber) doch alles falsch“ gemacht habe. Auch Angela Merkel und Emmanuel Macron zeigten sich verstimmt.
Die Kommissarin hielt sich an den Gesetzestext, verhinderte aber einen oft gewünschten „europäischen Champion“. Laut Vestager sei ein solcher jedoch schlicht das beste Unternehmen am Markt, nicht jenes, das am besten geschützt wird. „Die Fusionsregeln sind Ausdruck einer strategischen Entscheidung in Europa. Die Strategie besteht darin, dass sich Unternehmen gegenseitig herausfordern, um die besten zu werden. In China wird ein Grossteil des Marktes von riesigen staatlichen Unternehmen dominiert. In den USA wiederum ist bis zu einem gewissen Grad eine stärkere Marktkonzentration erlaubt.“
Hinter dem Siemens-Alstom-Fall steckte der Wunsch aller Beteiligten, Europa im Rahmen der Industriepolitik aktiv voranzutreiben. Denn längst geht die Angst um, Europa könne hinter die USA und China zurückfallen. Andrea Renda, Senior Research Fellow beim Brüssler Thinktank Center for European Policy Studies (CEPS), erteilt dem jedoch eine Absage: „Wettbewerbsregeln sind dazu da, spezifische Ziele zu erfüllen. Ihre Grundsätze sollten nicht mit der Industriepolitik in Konflikt gebracht werden.“
Doch nicht nur in der Industrie, auch hinsichtlich Technologieunternehmen ist die Furcht, dass Europa gegenüber den Konkurrenten ins Hintertreffen gerät, gross. Nur eines der 20 weltgrössten Internetunternehmen kommt aus Europa, auch nur eines der 20 grössten Start-ups. Vestager beruhigt: „Man sollte das Ökosystem in Europa nicht unterschätzen. Es gibt sehr viele gute Start-ups, etwa in Paris oder Berlin. Aber eines der Dinge, über die wir nicht ausreichend sprechen, ist die Funktionsweise unserer Kapitalmärkte. Denn wenn ein Start-up wachsen will, braucht es nicht nur talentierte Menschen, sondern auch ausreichend Kapital.“ Um Innovationen hervorbringen zu können, sei es für Unternehmen zukünftig unerlässlich, leichteren Zugriff zu Daten zu bekommen. Das ist wichtig, um Anwendungen von künstlicher Intelligenz (KI), etwa autonomes Fahren, umsetzen zu können. Bisher besitzen nur US-amerikanische Plattformen die nötigen Datenmengen. So fordern die von Vestager beauftragten Experten im Bericht „Competition Policy For The Digital Era“ einen ungewöhnlichen Ansatz: Europäische Unternehmen könnten aufgrund von Bestimmungen zur Interoperabilität Daten von US-amerikanischen Riesen bekommen – also just jenen, die Vestager seit Jahren im Zaum hält. „Ich hoffe, dass die nächste EU-Kommission die Gesetzgebung in diesem Bereich recht schnell angehen kann“, sagt Vestager. Für Renda ist dies ein Weg, einen „europäischen Champion“ aufzubauen: „Dies ist keine antiamerikanische Strategie und sollte es auch nicht werden. Es ist eine Neuausrichtung des Gleichgewichts in einem digitalen Markt.“
Die Chancen, dass Vestager tatsächlich EU-Kommissionspräsidentin wird, sind nach den Europawahlen leicht gestiegen. Die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (Alde) – zu deren Wahlkampfteam Vestager als inoffizielle Spitzenkandidatin gehört – beendete die Europawahlen zwar „nur“ auf Rang drei. Dennoch wird der Spitzenkandidat der Erstplatzierten Christdemokraten (EVP), Manfred Weber, etwa auf ein Bündnis mit Sozialdemokraten (S&D-Fraktion) und den Liberalen angewiesen sein. Scheitert diese Mehrheit, könnte Vestager zum Zug kommen. Denn dann müssen die Staats-und Regierungschefs einen neuen Kandidaten vorschlagen.
Vestager setzt jedenfalls weiterhin alles daran, Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker zu werden. Ihr Mandat als Wettbewerbskommissarin läuft am 31. Oktober 2019 offiziell aus. Angesichts dessen wird sie sich auch mit der Frage konfrontiert sehen, ob sie ihre Ziele erreicht hat. Haben Konsumenten im EU-Raum das Gefühl, gerechter behandelt zu werden? „Das wäre zu weitreichend. Ich kann das auch nicht wissen, denn wir sind noch nicht fertig. Aber natürlich hoffe ich, dass die Menschen merken, dass wir handeln und etwas bewegen können.“
So gesehen wird Vestager wohl auch in Zukunft für Fairness und Offenheit stehen. Unklar ist nur, in welcher Rolle sie „ihr Europa“ prägen wird – eine führende wird es jedenfalls sein.
Der Artikel ist die Coverstory unserer Mai-Ausgabe 2019 „Europa“.