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Bernhard Kerres weiss, was es bedeutet, im Scheinwerferlicht zu stehen: Einst Opernsänger, vollzog er einen Wandel und wurde CEO. Nun fordert der Berater das „Ende von Führungskräften“ und ein Umdenken.
Ob der Mann, der den Raum betritt, Bernhard Kerres ist oder nicht, kann man rein optisch nur schwer beurteilen. Doch sobald Kerres beginnt, zu sprechen, ist klar, dass er es sein muss: Er spricht tief und voll – und macht dem Hörer somit schnell klar, dass man es hier mit einem ehemaligen Opernsänger zu tun hat. Doch Kerres ist mehr als ein Künstler, blickt er doch auf eine Karriere als Gründer, CEO und Vorstandsmitglied zurück. Seine Erfahrungen nutzt er heute, um seinen Kunden als Berater zu helfen.
Berater – ein Begriff, den Kerres für sich selbst neu interpretiert hat: „Ich sehe mich als Instrumentenmacher, der einem Klienten oder einer Organisation hilft, die eigenen Instrumente fein zu stimmen, damit sie die beste Leistung bringen können.“ Wenn der frühere Opernsänger von Instrumenten spricht, meint er damit sinnbildlich Fähigkeiten, und wenn er mit Organisationen und Führungspersönlichkeiten zu tun hat, zieht er gerne Parallelen zu Orchestern und Dirigenten: „Ein Orchester kann ohne Dirigent spielen, umgekehrt geht das aber nicht. Genauso ist es mit Unternehmen und CEOs. Führungskräfte sollten sich fragen: Wo bringe ich einen Mehrwert und wo bin ich ein Störfaktor?“
„Innere“ Kündigungen kosten der Wirtschaft Milliarden
Dass er damit ein Problem anspricht, das die Wirtschaft jährlich Millionen kostet, zeigt der vom Beratungsunternehmen Gallup veröffentlichte Engagement-Index: 2019 kosteten innere Kündigungen (also die De-facto-Aufgabe der Arbeit ohne tatsächliche Kündigung) von Mitarbeitern Deutschlands Wirtschaft bis zu 122 Milliarden €. Laut Gallup würden diese Mitarbeiter eine distanzierte, ablehnende Haltung gegenüber dem Unternehmen einnehmen – die Zukunft des Unternehmens ist für sie weitestgehend bedeutungslos.
Bernhard Kerres
... studierte an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und machte in London einen MBA. Er war Opernsänger, COO und CFO der Kapsch Carrier Com AG sowie Geschäftsführer des Wiener Konzerthauses. Er gründete Hello Stage und ist aktuell Managing Partner der Beratungsfirma Haydn 1791 sowie Coach für Führungskräfte.
Als Grund wird laut Marco Nink, Regional Lead Research & Analytics EMEA bei Gallup, vor allem das Verhalten von Führungskräften genannt, weil diese massgeblich die Unternehmenskultur beeinflussen. In Deutschland wiesen 2019 69 % der von Gallup befragten 37,1 Millionen Arbeitnehmer eine geringe bis gar keine emotionale Bindung zu ihrem Unternehmen auf. Kerres sieht vor allem im Verständnis des Begriffs Führungskraft einen Knackpunkt: „Wir leben und arbeiten in der heutigen Digitalgesellschaft in unterschiedlichen Ökosystemen. Überall gibt es Knotenpunkte, an denen Stränge ineinanderlaufen. Es geht also nicht darum, jemandem zu sagen, was zu tun ist, sondern um die Koordination von Informationen und damit die Generierung eines Mehrwerts. Wir sollten keine Führungspersonen mehr ausbilden, sondern Konnektoren.“
Es gibt einen Grund, warum Kerres heute Coach und nicht Opernsänger ist. Als er mit 28 Jahren erkannte, dass seine Fähigkeiten nicht ausreichen, um die Art von Opernkarriere zu machen, die er sich vorgestellt hatte, traf er eine folgenschwere Entscheidung: Er kehrte seinem Dasein als Opernsänger den Rücken und absolvierte in London einen MBA. Seinen ersten Beraterjob erhielt er dann aber nicht wegen seines neuen Titels, sondern wiederum wegen seiner Vergangenheit als Opernsänger. „Die Recruiterin des Beratungsunternehmens Booz Allen Hamilton war zufällig Opernfan. Wir unterhielten uns den ganzen Abend darüber.“ Kerres erhielt eine Praktikumsstelle, aus der eine vierjährige Tätigkeit entstand. Sein letztes Projekt war der bundesweite Ausbau des Blaulichtfunknetzes Adonis im Auftrag des Telekommunikationsunternehmens Kapsch Carrier Com. Kerres erhielt von Kari Kapsch, dem COO der Gruppe, das Angebot, die Rollen des COO und CFO zu übernehmen. Doch Kerres fehlte die Expertise. „Ich hatte keine Erfahrung im Bereich Finanzen und Buchhaltung. Also vereinbarte ich einen Deal mit dem Finanzdirektor“, so Kerres.
Dieser hatte das nötige Know-how, wollte jedoch nicht in den Vorstand, weil er nicht die Probleme der Aktionäre lösen wollte – etwas, dem Kerres wiederum nicht abgeneigt war. Der Kollege beantwortete somit geduldig jede noch so simple Frage von Kerres, während dieser sich dann den Aktionären stellte. Kerres war damals Mitte 30; knapp vier Jahre später folgte die Anstellung als CEO des deutschen Verkehrstechnikkonzerns M-Tech.
Customer Experience neu definiert
Nach dem Motto „Zurück zum Ursprung“ verliess der Österreicher M-Tech jedoch nach zehn Monaten wieder. Er wurde Geschäftsführer des Wiener Konzerthauses und gründete kurz darauf Hello Stage (bekannt als „LinkedIn für klassische Musik“), schrieb ein Wirtschaftsbuch für klassische Musiker und wurde zum Gründungs- und Managing-Partner der Beratungsfirma Haydn 1791, welche sich zum Ziel gesetzt hat, Innovation in den klassischen Künsten zu fördern.
Wir leben in einer rationalen Welt, dürfen aber nicht vergessen, dass wir emotionale Wesen sind.
Dabei spielt etwa Customer Experience eine bedeutende Rolle. „Das ist die grösste Aufholjagd in der klassischen Musik – Customer Experience gibt es dort nicht. Man braucht etwa doppelt so viele Klicks, um ein Ticket für die Salzburger Festspiele zu kaufen, als beim Kauf eines Flugtickets von Wien nach New York“, sagt Kerres. Laut dem Beratungshaus Deloitte ist Customer Experience das Schlüsselmerkmal des zukünftigen Erfolgs von Unternehmen – und zwar ganz unabhängig von der Branche.
Eine 2018 veröffentlichte Studie von KPMG zeigt zudem: Die Qualität der Kundenbeziehung korreliert mit dem Umsatzwachstum. Die fünf Prozent der führenden Unternehmen in Sachen Customer Experience erzielen 54 % mehr Umsatzwachstum als jene Unternehmen, die dabei schlecht abschneiden. Für Kerres bedeuten innovative Konzepte für Kunst und Musik etwa neue Konzertformate oder eine Vergrösserung der Customer Journey. „Es geht darum, eine Geschichte zu erzählen und die Kunden mit auf eine Reise zu nehmen. Ein Konzert ist der Höhepunkt der Reise, sie endet dort aber nicht“, so Kerres.
Seine Vergangenheit nutzt der ehemalige Opernsänger geschickt. So taucht er in seinen Workshops gerne mit einem ganzen Streichorchester auf und lässt dieses wortlos zu spielen beginnen. „Wir leben in einer rationalen Welt, dürfen aber nicht vergessen, dass wir emotionale Wesen sind. Kunst und Musik öffnen Menschen. Am Ende des Konzerts hat etwa die Hälfte der Anwesenden Tränen vergossen.“
Obwohl aus seinem Traum von den grossen Bühnen der Welt also letztlich nichts wurde, hat Kerres es dennoch geschafft, mit der Musik Karriere zu machen. „Ich bin nie aus der klassischen Musik weggegangen. Sie ist meine Leidenschaft.“
Text: Andrea Gläsemann
Fotos: David Visjnic
Der Artikel ist in unserer Jänner-Ausgabe 2020 „Radical Change“ erschienen.