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Was ist schlimmer als verlieren? Siegen. Diesen Witz kennt im Südosten Nordrhein-Westfalens jedes Kind – und damit ist nicht das Verb gemeint, sondern eine Stadt am Rand des Sauerlands.
Doch auch, wenn Siegen nicht so schlecht ist wie sein Ruf – es lässt sich eher weniger behaupten, dass man in seinem Zentrum viel erleben kann, ebenso wenig wie in jenem von Solingen, Pforzheim, Marl, Giessen oder Bremerhaven; allesamt mittelgrosse Städte in Deutschland, die eine sozusagen ausgestorbene Innenstadt gemein haben.
Und die Liste wird länger: Überall veröden Städte, weil ihr Einzelhandel vor die Hunde geht. Allein von 2014 bis 2019 hat sich die Anzahl an Standorten von Einzelhändlern in Deutschland um 29.000 verringert. Das ist eine fatale Entwicklung, denn der Einzelhandel prägt das Gesicht unserer Innenstädte wie sonst nichts. Neben der sich oftmals preislich unterbietenden Gastronomie und dem eintönigen Bild der immer gleichen Unternehmen wie Bershka und Zara kannibalisiert vor allem das Onlinegeschäft die Einkaufsstrassen.
Mateusz Witjes
...absolvierte einen Master in Industrial Engineering and Management an der Fachhochschule Kiel. Von 2018 bis 2020 war er beim französischen Unternehmen Mano Mano im Business Development tätig.
Seit 2020 ist Witjes Deutschland-Chef des 2019 in Frankreich gegründeten Start-ups Ankorstore.
Kampagnen mit Namen wie „Heimat Shoppen“ oder „Ich kauf lokal“ wollen die Misere bekämpfen, indem sie die Bürger in die Verantwortung nehmen. Doch solche moralisierenden Appelle werden nicht funktionieren: Konsumenten, Einzelhändler, Grossisten und Hersteller haben je ihre eigenen Interessen, und nur, wenn sie alle auf ihre Kosten kommen, entstehen tragfähige Strukturen. Natürlich bestimmt die Nachfrage das Angebot. Doch für den Einzelhandel ist das Gegenteil ebenso richtig: Um wieder attraktiv zu werden, müssen die Läden ihre Sortimente optimieren, Verfügbarkeiten erhöhen, Rückgaben ermöglichen und mit einer flexiblen Produktauswahl ständig aufs Neue überraschen.
Diese Beweglichkeit ist wichtig, weil die Trends immer schneller wechseln. Zudem können lokale Geschäfte den Ketten die Stirn bieten, wenn sie sich die Tendenz zu Marktnischen, Regionalbezug und Nachhaltigkeit zu eigen machen.
Der stationäre Handel muss vielmehr erkennen, dass seine Zukunft im Schulterschluss mit dem Onlinehandel liegt.
Wer nun glaubt, dies alles wäre der Digitalisierung mühsam abzutrotzen, liegt falsch – das Gegenteil ist der Fall. Der stationäre Handel muss vielmehr erkennen, dass seine Zukunft im Schulterschluss mit dem Onlinehandel liegt. Das bedeutet einerseits, dass er auf hybride Shoppingmodelle setzen sollte, damit seine Kunden mal online, mal offline einkaufen können. Gerade jüngere Generationen schätzen diesen Ansatz, etwa in Gestalt von „Click and Collect“-Verfahren, bei denen man die Ware im Internet bestellt und im Laden abholt; ohne Versandkosten, aber dafür mit der Möglichkeit zu haptischen Erlebnissen und abrundenden Zusatzkäufen – zur Freude der Händler erwerben laut einer Studie 40 % vor Ort noch weitere Artikel. Vor allem aber zahlt sich die Liaison aus E-Commerce und Retailern in Form digitaler B2B-Marktplätze aus, die im Begriff sind, den Geschäften die Bürde des Modernisierungsverlierers abzunehmen. Der traditionelle Einzelhandel ist dank ihnen imstande, intelligenter, schneller und kreativer zu handeln, als dies vor Kurzem noch denkbar war. Sogar kleine Boutiquen, Concept-Stores oder Delikatessenläden sind damit in der Lage, häufig neue Produkte zu testen und ihre Zielgruppen zu erweitern.
Wie aber kann sichergestellt werden, dass bei Playern dieser Grösse dann nicht der Cashflow leidet? Die Antwort: durch Konditionen, die so dynamisch sind wie das Sortiment, etwa ein niedriger Mindestbestellwert gepaart mit einem grösseren Zahlungsaufschub als üblich. Einzelhändler gehen also nicht nur ein äusserst geringes Risiko ein, sondern können mit der Ware auch noch Geld verdienen, bevor sie bezahlt ist.
Für eine Spielwiese des Handels sind solche Plattformen allerdings eine schlechte Nachricht: Klassische Messen dürften als Instrumente des Wareneinkaufs bald von Onlinemessen abgelöst werden, was dem Handel viel Zeit und Kosten spart. So ist es zwar möglich, dass mancher dem Messerummel von einst hinterhertrauern wird. Wer sich allerdings aussuchen dürfte, entweder gut besuchte Messeareale zu haben oder attraktive Innenstädte voller Leben – er müsste wohl nicht lange nachdenken …
Gastkommentar: Mateusz Witjes
Opinions expressed by Forbes Contributors are their own.
Dieser Gastkommentar erschien in unserer Ausgabe 10–20 zum Thema „Handel".