Kein Schnitzelverbot

Vor 13 Jahren hat Paul Ivić die Leitung der Küche im vegetarischen Sterne-Restaurant Tian in Wien übernommen. Seither trug es massgeblich dazu bei, vegetarische und vegane Speisen salonfähig zu machen – doch Ivić verfolgt weiterhin grosse Ziele. Welche Rolle Biodiversität, Pestizide und das „seltene gute Stück Fleisch“ dabei spielen, erklärt er im Gespräch mit Forbes.

Paul Ivić liebte als Kind vor allem Speckknödel – seine Grossmutter, sagt er, habe sie immer am besten gemacht. Auch heute noch hat der Chefkoch eine starke emotionale Bindung zu den Gerichten seiner Kindheit: „Der Duft, wenn man nach Hause kommt und die Mama die Lieblingsspeise gekocht oder gebacken hat, ist einfach unglaublich. Dieser Luxus, von Mama oder Oma bekocht zu werden, war wohl meine erste Begegnung mit dem Kochen“, erzählt er.

Obwohl es auch heute im Restaurant von Ivić, dem Tian, verlockend duftet, sucht man Speckknödel hier vergeblich. Auf der Speisekarte des mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurants stehen ausschliesslich vege­tarische oder vegane Gerichte, schlicht betitelt mit Namen wie „Gurke“, „Artischocke“ oder ­„Aprikose“. Diese Reduktion auf das Wesentliche spiegelt sich auch in der Inneneinrichtung wider: Grosse Gläser mit eingelegtem Gemüse schmücken die Wände, Schreibtischlampen beleuchten dezent die Tische. Auch, wenn das Restaurant um elf Uhr vormittags noch geschlossen und leer ist, ist die Küche bereits voll besetzt – hier wird das Gemüse geschnitten, werden Suppen gekocht und wird alles für den Abend vorbereitet. Denn auch heute ist das Tian, wie fast jeden Abend, aus­gebucht. Der routinierte Chefkoch wirkt dabei völlig entspannt – er sitzt an einem der Tische und geniesst in aller Ruhe einen Espresso.

„Kochen ist eine Art der Wertschätzung für sich selbst. Anstatt deinen Körper mit Fast Food zu versorgen, nimm dir die Zeit, etwas Gutes und Gesundes zuzubereiten!“

Paul Ivić

Das Tian wurde 2011 von Christian Halper gegründet, der von Anfang an Ivić als Chefkoch im Boot haben wollte und ihn daher zum Miteigentümer und Geschäftsführer machte. „Die Vision, ein exklusives, rein vegetarisches Restaurant zu eröffnen, hat mich sofort begeistert und neugierig gemacht. Die Geschmacksvielfalt pflanzlicher Zutaten hat mich schon immer mehr fasziniert als jene von tierischen Produkten“, erklärt Ivić.

Dabei war das Kochen nicht seine erste Berufswahl: „Als Kind wollte ich eigentlich Comic­zeichner werden. Das Kochen war eher eine pragmatische Entscheidung, da ich in einem Tourismusort in Tirol aufgewachsen bin“, erinnert sich der Chefkoch zurück. In Ivićs Kindheit, als Sohn eines Kroaten und einer ­Österreicherin, spielte das gemeinsame Essen mit der ­Familie eine zentrale Rolle und prägte seine erste Begegnung mit dem Kochen. So gab Ivić schliesslich seinen Traum auf, Comiczeichner zu werden, um sich der Kulinarik zu widmen. Er absolvierte eine klassische Kochausbildung in verschiedenen gehobenen Küchen in Österreich und später auch in der Schweiz und Spanien. Die vegetarische ­Küche stand dabei nie im Fokus seiner Ausbildung: „Damals galt Geflügel noch als ‚vegetarisch‘“, erinnert sich Ivić und fügt hinzu: „Aber ich hatte das Glück, von Köchen ausgebildet zu werden, die grossen Wert auf die Qualität ihrer Produkte legten und niemals Fleisch aus Massentierhaltung verwendeten.“

Die Wertschätzung für qualitativ ­hochwertige Produkte hat Ivić auch in seinem Restaurant bewahrt, obwohl hier kein Fleisch serviert wird. Geschmacklich vermisst er es jedoch nicht, auch wenn er privat hin und wieder ein gutes Stück Fleisch geniesst. „Wir müssen auf nichts verzichten“, betont Ivić und legt stattdessen besonderen Wert auf die geschmacklichen Nuancen von ­saisonalem Gemüse und Obst. Auch Fleisch­ersatzprodukte sucht man im Tian vergeblich.

Ein Acht-Gänge-Menü kostet ohne Weinbegleitung 172 €, mit Weinbegleitung kommen weitere 112 € hinzu. Auf Wunsch kann das Menü auch in einer veganen Variante bestellt werden. Die Menüplanung erfolgt bereits ein Jahr im ­Voraus und unterliegt ständigen Veränderungen, abhängig von der saisonalen Verfügbarkeit der Produkte. „Die Zusammenstellung des Menüs ist kein Soloprojekt, sondern Teamarbeit. Ich weiss, dass viele Küchenchefs nur ihre eigenen Kreationen auf der Karte sehen wollen, aber das hat mich nie gereizt“, erklärt Ivić.

Auch wenn das Tian heute mit seiner Philo­sophie grossen Erfolg hat, sah es in den Anfangs­jahren um 2011 ganz anders aus. „Am Anfang wollte uns niemand“, erinnert sich Ivić und fügt hinzu: „Vor allem die Presse hat uns stark kriti­siert. Dabei wollten wir nie jemandem das Schnitzel verbieten, sondern lediglich eine zusätzliche Option für genussvolle vegetarische und vegane Küche anbieten.“ Auch Ivić selbst stand anfangs vor allem bei der Menüzusammen­stellung vor Herausforderungen, da es nur wenig Literatur zur veganen und vegetarischen Küche gab. „Es hat lange gedauert, bis wir das Restaurant täglich vollbekamen, weil wir in vielen Bereichen bei null anfingen. Ohne die Unterstützung von Christian Halper gäbe es uns heute wahrscheinlich nicht mehr“, so Ivić nachdenklich.

Mittlerweile ist es schwer, kurzfristig ­einen Tisch im Tian zu bekommen, und das ­Restaurant ist auch bei nicht vegetarischen und nicht veganen Gästen beliebt. „Anfangs hatten vor allem Männer oft Angst, hier zu essen, weil sie befürchteten, nicht satt zu werden. Man konnte sehen, wie nervös sie während der ersten beiden Gänge waren. Doch ab dem dritten Gang haben sie sich entspannt, weil sie merkten, dass es auch ohne Fleisch genauso gut schmeckt“, erzählt Ivić und fügt hinzu: „Mittlerweile sind es gerade die Männer, die herkommen wollen.“

Heute hat der Chefkoch gemeinsam mit ­seinem Team die Marke Tian im deutsch­sprachigen Raum fast schon zu einem Imperium der vegetarischen und veganen Küche gemacht. Neben dem ursprünglichen Restaurant betreibt das Team seit 2013 das Tian-Bistro am Wiener Spittelberg, hat im Keller des Tian-Restaurants eine eigene Kochschule eingerichtet, veröffentlichte mehrere Kochbücher und bietet Tian-­Produkte für zu Hause an. Das Team ist mittlerweile auf 47 Mit­arbeiter gewachsen.

Einer der grössten Erfolge für Ivić war dennoch die Verleihung des Michelin-Sterns im Jahr 2014. Damit ist das Tian das einzige rein vegetarische Restaurant in Österreich, das solch einen Stern trägt; weltweit gibt es nur 17 weitere vegetarische Restaurants mit dieser Auszeichnung. Für Ivić war der Michelin-Stern jedoch keine Über­raschung, erzählt er: „Ich habe immer darauf hingearbeitet. 2011 haben meine Kollegen mir noch davon abgeraten, weil sie gemeint haben, mit ­einem vegetarischen Restaurant würde man keinen Stern bekommen. Aber ich habe immer an das Team geglaubt.“ Zusätzlich zum Michelin-Stern erhielt das Tian auch einen „Nachhaltigkeits-Stern“ von Michelin – denn neben dem Schwerpunkt auf pflanzlicher Küche verfolgt Ivić auch eine weitere Philosophie: „Wir arbeiten mit der Natur, nicht gegen sie. Im Zuge dessen verwenden wir ausschliesslich Produkte ohne Pestizide und legen grossen Wert auf Biodiversität sowie eine faire Bezahlung für unsere Lieferanten und Bauern.“

Doch die wechselhaften Wetterbedingungen, die damit verbundene Verfügbarkeit und eine abnehmende Produktqualität stellen zunehmend Herausforderungen für den Chefkoch dar: „Im Lauf der Jahre hat sich gezeigt, dass bei der landwirtschaftlichen Produktion oft die Quantität über die Qualität gestellt wird. Das ist bedauerlich für uns, die Bauern und die Konsumenten, da dadurch viele interessante Gemüsesorten verloren gehen und der Geschmack leidet“, so Ivić.

Heute spricht der Koch gerne über die Speisen seiner Kindheit; über die Speckknödel der Oma und das Gemüse und Obst aus dem Garten seiner Familie: „Viele Leute wissen gar nicht, wie unterschiedlich zum Beispiel Tomaten schmecken können. Es gibt so viele verschiedene Sorten, die mit der Zeit alle verloren gehen, weil sie dem geschmacklich einheitlichen Standard ­weichen müssen“, erklärt Ivić. Mit seinen Kochbüchern will der Chefkoch dabei einen Beitrag leisten, die vegetarische und ganzheitliche ­Küche auch an Hobbyköche zu Hause heranzuführen: „Die Menschen nehmen sich keine Zeit mehr zum Kochen und greifen stattdessen zu minder­wertigem Fertigessen. Dabei ist Kochen eine Form der Wertschätzung für sich selbst. Anstatt deinen Körper mit Fast Food zu versorgen, nimm dir die Zeit, etwas Gutes und Gesundes zuzu­bereiten!“, appelliert er.

Ob sich der Koch vorstellen könnte, in der Zukunft ein Restaurant zu eröffnen, das Fleischgerichte anbietet? „Fleisch kann durchaus grossartig schmecken, aber ich habe keine Absicht, damit in einem Restaurant zu arbeiten. Die Fas­zination, neue Pflanzen zu entdecken und zu kombinieren, begeistert mich einfach mehr“, ­erklärt Ivić. Er gehört damit zu einer nach wie vor kleinen Gruppe von Köchen, die sich auf pflanzliche Küche spezialisiert haben. Und wer weiss – vielleicht wird es in Zukunft noch weitere Tian-Standorte auch ausserhalb Österreichs geben? Der Chefkoch ist dieser Idee gegenüber durchaus aufgeschlossen.

Paul Ivić (Jahrgang 1978) kochte nach seiner Ausbildung in verschiedenen Häusern in Österreich, später auch in der Schweiz und in Spanien. Seit 2011 ist er Küchenchef des vegetarischen Restaurants Tian in Wien, das 2014 mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde.

Fotos: Gianmaria Gava

Lela Thun,
Redakteurin

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