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Aufbauen, optimieren, zum Erfolg führen: Eva-Maria Meijnen weiss, wie das geht. Nach knapp 20 Jahren in Grosskonzernen bringt sie mit ihrer Expertise nun das Zahnschienen-Start-up Plusdental voran. Ihre Ziele sind ambitioniert: Bis 2022 soll das Unternehmen das erste frauengeführte Unicorn Deutschlands werden – und den Markt für Zahnbehandlungen revolutionieren.
Ob LVMH, Armani oder Amazon: Als die Pandemie im März 2020 Europa und Amerika erreichte, stellten grosse Unternehmen einen Teil ihrer Tätigkeiten um und produzierten statt Parfüm Desinfektionsmittel, statt modischen Klamotten Schutzanzüge für medizinisches Personal – und sie spendeten Millionen für die Entwicklung von Covid-19-Testkits.
Auch das Berliner Start-up Plusdental trug seinen Teil zur Bekämpfung der Pandemie teil und fertigte im hauseigenen 3D-Drucker Schutzvisiere an. „Wir haben innerhalb weniger Stunden einen Prototyp entwickelt und im Zeitraum von kurz vor Ostern bis Ende Mai 7.600 Stück produziert“, so Co-CEO Eva-Maria Meijnen.
Normalerweise wird in den 3D-Druckern etwas ganz anderes als Schutzvisiere hergestellt: Denn das 2017 von Constantin Bisanz, David Khalil, Peter Baumgart und Lukas Brosseder gegründete Berliner Start-up entwickelt durchsichtige Zahnschienen für Erwachsene
und will damit innerhalb weniger Monate für gerade Zähne – und ein besseres Wohlbefinden – sorgen.
Konkret können Interessierte in einer der 200 Partnerzahnarztpraxen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Grossbritannien, Frankreich, Spanien, den Niederlanden und Schweden einen Termin vereinbaren; dort wird mittels von Plusdental zur Verfügung gestellter Technologie kostenlos ein digitaler Zahnabdruck erstellt und die Zahngesundheit überprüft. Ist der Patient behandelbar – das bedeutet, seine Zähne sind gesund – und möchte er das Angebot nutzen, werden die Bilder in das Plusdental-Zahnlabor übertragen, wo Zahntechniker mittels 3D-Simulation einen Behandlungsplan erstellen. Ein hauseigener 3D-Drucker fertigt die Schienen an, die anschliessend dem Patienten zugeschickt werden. Eine App begleitet den gesamten Behandlungsprozess, indem sie wöchentlich Parameter abfragt und spätestens alle zwei Monate den Patienten auffordert, Bilder hochzuladen. Anhand der Bilder gleicht der Zahnarzt den Behandlungsfortschritt mit der Planung ab. Gibt es eine Diskrepanz zwischen Ist- und Soll-Zustand, erhält der Patient eine Rückmeldung von seinem Zahnarzt, etwa bestimmte Schienen länger zu tragen oder auch für einen Vor-Ort-Check in die Praxis zu kommen. Generell dauern die Behandlungen zwischen drei und zwölf Monate. Läuft eine Behandlung länger als ein Jahr, übernimmt Plusdental die Folgekosten. Zahlen kann ein Patient entweder via Einmalzahlung (ab 1.690 €) oder per Ratenkauf ab monatlich 27,57 €. „Wir sehen uns als Digitalisierungspartner für Zahnärzte“, so Meijnen. Laut dem Unternehmen konnten mit dem digitalen Konzept die Behandlungskosten um bis zu 60 % reduziert werden.
Doch Plusdental ist nicht allein auf weiter Flur: So gibt es im deutschsprachigen Raum das Berliner Unternehmen Dr. Smile (Christopher von Wedemeyer landete 2019 auf der Forbes „Under 30 DACH“-Liste) oder Invisalign aus der Schweiz; und mit Smile Direct Club betritt ein Konkurrent aus den USA gerade den europäischen Markt. „Wir treffen in den Märkten, in denen wir tätig sind, zwar auf den einen oder anderen Wettbewerber. Aber wir freuen uns letztendlich über jeden, der dazu beiträgt, dass der Markt wächst“, sagt Meijnen über die Konkurrenz. „Allein in Deutschland haben Aligner (Zahnschienen, Anm.) erst einen Marktanteil von 12 % – da kann man sich vorstellen, was noch alles möglich ist. Egal wo wir hinkommen, wir sind direkt ausgebucht“, so die Co-CEO. Und tatsächlich ist das Potenzial gross: Belief sich das Volumen des weltweiten Markts für Zahnschienen 2018 auf etwa 1,95 Milliarden US-$, sollen es laut dem Marktforschungsunternehmen The Insight Partners 2027 knapp 7,6 Milliarden US-$ sein.
Eva-Maria Meijnen interessierte sich schon während ihrer Schulzeit für Mathematik und Physik. Sie entschied sich nach ihrem Schulabschluss dafür, Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Karlsruhe zu studieren. „So richtig gepackt hatte es mich, als ich in einer Vorlesung über Lean Management sass – also wie man Produkte immer aus Kundensicht optimiert, und zwar so, dass es nur Gewinner gibt. Da wollte ich einsteigen“, so Meijnen. Nach ihrem Abschluss begann sie 2004 als Lean Consultant bei Siemens, nach zwei Jahren ging es für Meijnen zu Porsche Consulting. „Bei Porsche war ich eher für die exotischen Unternehmen zuständig. Damals kamen die meisten Kunden aus der Automobilindustrie, ich war jedoch in allen anderen Branchen beratend unterwegs“, erzählt Meijnen. Von ihrem letzten Kunden MTU erhielt sie schliesslich das Angebot, eine Inhouse-Beratung aufzubauen. Sie nahm an – und wechselte nach zwei Jahren in die Geschäftsleitung des Berliner Standorts. Dann folgte der nächste Wechsel: Nach knapp 20 Jahren in Grosskonzernen stieg Meijnen Anfang 2019 als COO beim Medtech-Start-up Plusdental ein, um die Inhouse-Produktion aufzubauen. Seit Ende 2019 nimmt sie neben Baumgart und Brosseder den Posten als Co-CEO ein.
Ihren ersten Berührungspunkt mit ihrer beruflichen Gegenwart hatte Meijnen jedoch schon viel früher: 2003 lernte sie einen der Mitgründer, Lukas Brosseder, während eines Praktikums in Shanghai kennen. Als er ihr 2017 von seiner neuesten Idee, transparente Zahnschienen nach Europa zu bringen, erzählte, war Meijnen begeistert: „Erst drei Wochen zuvor hatte ich mich mit einer Freundin getroffen, die aus Amerika zurückgekommen war und genau solch eine Behandlung dort durchgeführt hatte. Sie war wie ausgewechselt, strahlte und war viel befreiter als früher.“ Als man ihr das Angebot zum Einstieg unterbreitete, zögerte sie nicht lange: „Ich wollte die Chance nutzen, etwas Eigenes aufzubauen, und in eine Branche wechseln, in der in Bezug auf Digitalisierung und moderne Technik grosses Potenzial herrscht. Mir war klar, dass eine Chance in der Form so schnell nicht wieder kommen wird.“
Mittlerweile beschäftigt Plusdental 450 Mitarbeiter und plant bis Ende 2021 mit einem Umsatz von deutlich über 100 Millionen €. Mehr als 40.000 Patienten haben die Behandlung bereits erfolgreich abgeschlossen, das Partnernetzwerk soll bis Ende 2021 von 200 auf 500 Praxen wachsen – und die acht Märkte, in denen Plusdental aktiv ist, sollen bald schon um Italien, Belgien und Dänemark erweitert werden. Zudem plant das Unternehmen, in den chinesischen Markt einzusteigen: „Wir haben China jetzt im Fokus, da wir mit Ping An und Jebsen Capital zwei tolle Investoren an Bord haben, die uns begleiten und mit ihrem Know-how unterstützen, in diesem spannenden Markt Fuss zu fassen“, so Meijnen.
Der Versicherungskonzern Ping An, der mit Ping An Good Doctor eine der grössten Telemedizinplattformen weltweit betreibt, soll über seinen Global Voyager Fund Wissen im Bereich Telemedizin vermitteln. Der Konzern, ebenso wie die Investmentabteilung des in Hongkong ansässigen Familienunternehmens Jebsen Group (investierte bereits in Biontech), stieg im Mai 2020 neu als Investor ein. Auch mit an Bord: Amorelie-Gründerin und Business Angel Lea-Sophie Cramer sowie Profifussballer Mario Götze (beide selbst Patienten bei Plusdental). Zudem legten die Bestandsinvestoren HV Capital, Lakestar, Cadence Growth Capital und Kreos Capital zuletzt nach, sodass in der Series-C-Runde 35 Millionen € eingesammelt werden konnten; Plusdental kommt laut Handelsblatt damit auf eine Bewertung von über 100 Millionen €.
Erst kürzlich verkündete das Unternehmen, bis 2022 das erste deutsche frauengeführte Unicorn werden zu wollen. „Wir haben in den letzten zwölf Monaten gesehen, dass das absolut machbar ist“, so Meijnen. Der Griff nach dem Einhornstatus hat für sie Symbolcharakter: „Darunter können sich die meisten etwas vorstellen. Die Unternehmensbewertung soll zeigen, dass der Markt und die Nachfrage da sind, um den Einhornstatus zu erreichen.“ Denn Plusdental will nicht ausschliesslich bei Zahnschienen bleiben: Geht es nach Meijnen, gibt es viele weitere Behandlungen, die man „besser und günstiger“ anbieten kann, etwa Zahnersatz. Bezüglich des Zeitpunkts der Ausweitung des Angebots bleibt die gebürtige Rheinländerin jedoch noch vage: „Wir wachsen an allen Ecken und Enden, da muss man schauen, dass man sich fokussiert. Aber aus meiner Sicht dauert auch das nicht mehr lange.“
Text: Andrea Gläsemann
Fotos: Jörg Klaus
Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 4–21 zum Thema „Geld“.