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Mit weltweit 800 Millionen monatlich aktiven Nutzern und insgesamt anderthalb Milliarden Downloads in den letzten drei Jahren sprengt TikTok, die App für Kurzvideos, derzeit alle Rekorde. Doch was steckt hinter dem Hype?
Ein Mädchen im Pyjama singt tanzend zu Adeles Lied „Set Fire to the Rain“ – einmal mit dem Finger auf dem Handybildschirm zur Seite wischen, swipe. Ein Motorrad kommt nach einer 360-Grad-Drehung in grosser Höhe frontal auf einen zugerast, swipe. Eine Katze wackelt mit ihren Ohren, swipe. Was bei dem einen oder anderen für Verwirrung sorgen mag, ist Teil der aus China stammenden Kurzfilm-App TikTok, welche sich in den letzten Jahren wie ein Lauffeuer ausgebreitet hat – und der Trend scheint weiterzugehen: Hatte Tik Tok im Oktober 2017 noch knapp sieben Millionen Downloads zu verzeichnen, betrugen diese laut dem Datenanbieter Statista im Oktober 2019 bereits 52,69 Millionen (via Google Play Store und Apple Store). Gesamt gesehen nutzten 2019 800 Millionen Menschen die App – mehr als die amerikanische, kanadische und mexikanische Bevölkerung zusammen.
Laut der Datenanalysewebsite Sensor Tower war TikTok im ersten Quartal 2019 zudem die drittmeistinstallierte App weltweit (nach Facebooks WhatsApp und Messengerdienst) und überholte im ersten Quartal 2019 sogar Youtube, Facebook, Instagram und WhatsApp mit mehr als 33 Millionen Downloads im Apple Store. Und während beispielsweise Instagram seit seiner Gründung sechs Jahre benötigte, um dieselbe Anzahl an Nutzern zu generieren, schaffte TikTok das in drei Jahren. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter dem TikTok-Hype?
Beijing ByteDance Technology
... wurde 2012 von Zhang Yiming gegründet und entwickelte den Nachrichtendienst Toutiao sowie die Videoplattform TikTok, welche in China als Douyin bekannt ist. Mit 800 Millionen Nutzern weltweit und einer Bewertung von 75 Milliarden US-$ gilt ByteDance als wertvollstes Start-up der Welt.
TikTok vermarktet sich selbst unter dem Motto: „Life’s moving fast, so make every second count!“ Und getreu diesem Slogan können dann zeitlich begrenzte, 15 bis 60 Sekunden lange Videos aufgenommen und mit einer Vielzahl an Filtern, Spezialeffekten, Emoji-Stickern und Soundtracks bearbeitet werden – je mehr Likes und Comments er bekommt, desto öfter wird der Clip anderen Usern vorgeschlagen. Anders als bei Instagram spielen auf TikTok Follower keine Rolle, um in der App bekannt zu werden, ganz im Gegenteil: Auf TikTok kann ein Video bei nur 20 Followern trotzdem 2.000 Aufrufe erzielen. Grund dafür ist der von ByteDance, der chinesischen Mutterfirma TikToks, selbst entwickelte Algorithmus, welcher Usern automatisch Kurzfilme anzeigt, angepasst an die Videos, die sie zuletzt gelikt, kommentiert oder zu Ende geschaut haben. Durch künstliche Intelligenz ist es der App so möglich, Videos anhand ihrer Inhalte und Hashtags den passenden Usern vorzuschlagen.
Ursprünglich unter dem Namen Musical.ly vermarktet, konnten die Nutzer – überwiegend Jugendliche – beim lippensynchronen Nachsingen grosser Hits oder Nachsprechen berühmter Filmszenen zusehen. Die von den Chinesen Louis Yang und Alex Zhu 2014 in Shanghai entwickelte Karaoke-App zog von 2014 bis 2017 über 200 Millionen Nutzer grösstenteils aus Europa, Indien, Südamerika und den USA an, von welchen 60 Millionen monatlich aktiv waren. Laut Angaben des Herstellers wurden täglich bis zu 13 Millionen Videos hochgeladen. Schliesslich wurde Musical.ly im November 2017 vom chinesischen Medienunternehmen Beijing ByteDance Technology um 800 Millionen bis eine Milliarde US-$ gekauft, berichtet Bloomberg. ByteDance brachte 2016 – ein Jahr vor dem Kauf von Musical.ly – die Videoplattform Douyin auf den Markt. Douyin ist die chinesische Version TikToks, angepasst an die dort vorherrschenden Zensurvorgaben, und zählt derzeit mehr als 500 Millionen monatlich aktive Nutzer in China.
Laut The New York Times war das Ziel, Douyin und Musical.ly zusammenzulegen, damit die chinesische App endlich eine Chance hatte, den Weltmarkt zu erobern. Des Weiteren war das Image von Musical.ly zunehmend durch die angeblich zunehmende Anzahl an pädophilen Nutzern und die nicht herausgefilterten anstössigen Inhalte in Verruf geraten. ByteDance wollte die Plattform neu ausrichten: Es sollten nicht nur Videos von nachgesungenen Songs erstellt werden können, sondern der Kreativität jedes Einzelnen freier Lauf gelassen werden. Ausserhalb Chinas wurde die App ausserdem ab August 2018 als TikTok vermarktet. ByteDance selbst wurde bereits im März 2012 von dem mittlerweile 36 Jahre alten Softwareingenieur Zhang Yiming gegründet und gilt als das wertvollste Tech-Start-up der Welt: Als Unicorn mit einem Wert von rund 75 Milliarden US-$ belegt es in der Rangliste von CB Insights noch vor Uber mit 72 Milliarden US-$ den ersten Patz.
Mit der Veröffentlichung von Toutiao, einer KI-gesteuerten Content-Discovery-Plattform in China, gelang dem Start-up schliesslich der Durchbruch. Profitabel ist ByteDance laut Bloomberg noch nicht, jedoch scheint TikTok eine wahre Goldgrube zu sein. Bisher verdient das Unternehmen an TikTok über ein virtuelles Münzsystem, sogenannten „TikTok Coins“, die erworben werden können, um Emojis zu kaufen. Eine Münze kann dabei von 0,99 US-$ bis zu 99,99 US-$ kosten und kann auch an andere Nutzer verschenkt werden, um beispielsweise seinen Lieblings-Content-Creator zu unterstützen – denn laut Die Zeit gilt: Je mehr Emojis ein Nutzer besitzt, desto grösser ist dessen Ansehen innerhalb TikToks. Insgesamt soll der Umsatz von ByteDance im Jahr 2018 laut Tagesspiegel zwischen sieben und 8,4 Milliarden € liegen, für 2019 visiert das Unternehmen 12,8 Milliarden € an.
In Zukunft sollen auf TikTok zusätzlich 15 Sekunden lange Werbeanzeigen im Videoformat erscheinen. Testkampagnen in Grossbritannien und den USA laufen bereits, in der chinesischen Version Douyin werden laut Nanjing Marketing Group schon seit Längerem Werbespots für bis zu 150.000 US-$ pro Tag oder vier US-$ per Klick verkauft. Doch nicht nur für Marken und Unternehmen, sondern auch für Influencer kann die App ein Sprungbrett sein. Viele Influencer sind durch Musical.ly oder TikTok bekannt geworden – so auch die deutschen Zwillingsschwestern Lisa und Lena Mantler mit 32,7 Millionen Abonnenten. Wie auch auf Instagram nutzen Unternehmen auf TikTok Individuen mit einer weiten Reichweite, damit diese durch ein Video, eine Challenge oder einfach durch Produktplatzierung für sie werben.
TikToks Aufwärtstrend soll laut New York Times durchaus weiter anhalten, auch wenn die Sorge besteht, die App könne so enden wie das Videoportal Vine, welches mittlerweile eingestellt wurde. Doch ByteDance hat grosse Ziele für die Kurzfilm-App, und auch andere Social-Media-Plattformen haben sich schon ein Beispiel an den erfolgreichen Features TikToks genommen, wie Instagram mit seiner Funktion, bei Storys Musik hinterlegen zu können, und seinem erst kürzlich in Brasilien veröffentlichten Musikvideo-Remix-Feature „Reels“, mit dem TikTok Konkurrenz erhalten soll. Auch Facebook setzt zum Gegenzug an und veröffentlichte eine eigene Video-App namens Lasso, die seit November 2018 in den USA erhältlich ist, so CNBC. Dem Wall Street Journal zufolge will auch Google eine Video-App namens Firework auf den Markt bringen.
Genug Anzeichen dafür, dass TikTok von den anderen Social-Media-Riesen als starker Konkurrent gesehen wird – jetzt gilt es nur noch, die Vormachtstellung als Videoplattform-Riese zu halten.
Text: Elisabeth Schneider
Illustration: Valentin Berger
Der Artikel ist in unserer November-Ausgabe 2019 „Next“ erschienen.