IN DER BEWEGUNG LIEGT DIE KRAFT

Wie bewegt sich Europa? Während die Pariser Bürgermeisterin die „15-Minuten-Stadt“ ausruft, fordern deutsche Forscher*innen Massnahmen, um das Radfahren attraktiver zu machen. Was tut sich sonst in Europa, wenn es um Mobilität geht? Ein Überblick.

Mobilität ist die Freiheit, sich von einem Ort an einen anderen zu begeben. In ­Europa machten sich über die vergangenen Jahrhunderte in diesem Bereich einige Erfinder ans Werk. Rückblick: 1623 baut Cornelis Jacobszoon Drebbel das erste echte U-Boot. Dessen Tauchtiefe: 3,60 Meter. 1888 tuckert Bertha Benz mit dem von ihrem Mann konstruierten Patent-Motorwagen die 89 Kilometer von Mannheim nach Pforzheim – die Tour gilt als erste ­Auto-Fernfahrt in der Geschichte. Jahre zuvor fährt Gustave Trouvé im dreirädrigen Motorwagen elektrisch durch Paris. 1960 tauchen Jacques Piccard und Don Walsh mit einem Tiefsee-­­U-Boot auf den Grund des Marianengrabens ab. Und sechs Jahre später denken sich Stefan Hedrich und Herbert Weh den „Transrapid“ aus, der bis zu 500 Stundenkilometer erreicht. Dann wären noch die Raumgleiter von Eugen Sänger zu nennen.

Ende der 1980er-Jahre lebt dessen Idee noch einmal neu auf – und wird dann doch nicht umgesetzt. Heute stünde so ein Raumgleiter Europa ganz gut zu Gesicht. Die Geschichte zeigt: Auf dem Kontinent gab es sehr gute Erfindungen. Doch es wäre langsam an der Zeit für Neues in Sachen Mobilität. Zum Beispiel bezüglich folgender Fragen: Wie gelingt der Griff nach den Sternen? Wie werden sich die Metropolen nach der Pandemie verändern? Und welche Nachwuchswissenschaftler*innen schlagen frische Routen ein?

Fragen wir Deutschlands erste Fahrradprofessorin Jana Kühl: „Es ist ein überfälliger Schritt, sich mit dem Radverkehr zu beschäftigen, und eigentlich unverständlich, dass dies erst jetzt startet. Früher konnte man sich nur im ehrenamtlichen Bereich der Radverkehrsförderung widmen.“ Weiters sagt sie: „Der Handlungsdruck hat sich erhöht. Es muss einen Vorteil geben, das Rad zu nutzen und nicht auf das Auto zu setzen. Ich wünsche mir mehr politische Entschlossenheit, um mehr Möglichkeiten zu schaffen, sich nachhaltig fortzubewegen.“

Kühl arbeitet seit November 2020 an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften als Professorin für Radverkehrsmanagement und bildet die Expert*innen der Zukunft aus. „Entscheidend sind Angebote, die einen regelrecht dazu einladen, aufs Rad umzusteigen. Dabei dürfen wir nicht nur ein Umsteigen fordern, sondern müssen auch gute und funktionierende Alternativen bieten“, so Kühl.

Blicken wir jetzt auf Europa. Womit waren die Menschen zuletzt auf dem Kontinent unterwegs?

Seit 2021 hat Dennis Knese die Stiftungsprofessur für Rad­verkehr der Frankfurt University of Applied Sciences inne. Sie ist Teil des Research Lab for Urban Transport. Knese ist Geograf und Verkehrsplaner.

Herr Professor Knese, stehen wir gerade vor einem epochalen Umbruch im Bereich der Mobilität?

[Professor Dr. Dennis Knese]: Ich denke, dass ein Grossteil der Bevölkerung und der politischen Akteure erkannt hat, dass eine Transformation des Verkehrssystems ansteht. Doch ein hohes Umweltbewusstsein bedeutet noch nicht, dass sich automatisch auch ein nachhaltiges Mobilitätsverhalten einstellt. Dazu bedarf es Massnahmen aus der Verkehrspolitik. Nach jahrzehntelanger Fehl­planung lassen sich die Probleme ­jedoch nicht von heute auf morgen lösen.

Welche Ideen möchten Sie in die Städte tragen?

[D.K.]: Mein Plädoyer ist eine „Stadt- und Verkehrsentwicklung für die Menschen“ – jene zukunftsgerichtete Verkehrs- und Stadtentwicklung denkt nicht vom Fahrzeug, sondern von den Menschen her.

Was halten Sie vom Konzept der „15-Minuten-Stadt“?

[D.K.]: Ob am Ende tatsächlich alles, was man braucht, innerhalb von 15 Minuten zu erreichen sein wird, ist nicht ausschlaggebend. Wichtig ist das Signal von ganz oben, dem nicht motorisierten Verkehr mehr Platz einzuräumen. Dies wird fix durch den Verwaltungsapparat verinnerlicht, sodass eine echte Transformation möglich ist. Das Konzept macht ja bereits Schule; die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo handelt mutig und ambitioniert.

Was müsste im Bereich der Umsetzung geschehen?

[D.K.]: Ob „15-Minuten-Stadt“, die „Superblocks“ in Barcelona oder die schwedische „One-Minute-City“ – all diese Konzepte verfolgen ähnliche Ziele. Wir müssen den Verkehr insgesamt reduzieren und die Trennwirkung von Strassen aufheben, etwa über eine Funktionsmischung, kurze Wege und eine veränderte Strassenaufteilung. Dazu ­gehören gute Geh- und Radwege, ein attraktives Angebot im öffentlichen Verkehr, der Ausbau des Schienenverkehrs für den Personen- und Güterverkehr oder die Forcierung der Elektromobilität. Da das Autofahren mit hohen Folgekosten verbunden ist, sollte man über eine Citymaut nachdenken.

Stichwort Geld: Wie teuer würde so ein Umbau wohl werden?

[D.K.]: Das lässt sich schwer abschätzen. Wichtig ist, dass man die Verkehrs­kosten transparent macht und gerechter aufteilt. Bislang haben die Städte deutlich stärker in den motorisierten Individualverkehr investiert und auf den Fussgänger- und Radverkehr entfiel nur ein Bruchteil der Investitionen, obwohl sie den höchsten Nutzen für die Gesellschaft aufweisen. Hier müsste das Verursacherprinzip, also ein ,polluter pays principle‘, greifen.

Wenn Sie im Juni 2041 aufwachen: Womit bewegen wir uns fort?

[D.K.]: Ich bin mir sicher, dass die Verkehrswelt in 20 Jahren deutlich diverser aussieht als heute, und glaube, dass sich auch die Automobilwirtschaft weiter wandelt. Der öffentliche Verkehr auf der Strasse und Schiene wird dann elektrifiziert und deutlich ausgebaut sein – wenngleich nicht ausreichend, um dem steigenden Bedarf standzuhalten, da die Planungs- und Genehmigungszeiten zu lang sind. Dies ist gleichzeitig die Chance für den Radverkehr.

3,21 Milliarden Kilometer auf Achse

„In der EU entfielen 2016 etwa 83 % aller Passagierkilometer im Land­verkehr auf den Pkw“, berichtet der Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft. Litauische Bürger stiegen dabei mit 89,1 % weitaus häufiger ins Auto als die Ungarn – diese waren mit dem Pkw nur zu 69 % unterwegs. Über die deutsche Mobilität heisst es im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur im Frühjahr 2020: „Die Deutschen sind sehr mobil und legten 2017 täglich rund 3,21 Milliarden Kilometer zurück. Das sind 133 Millionen Kilometer mehr als zum Zeitpunkt der letzten Erhebung 2008.“ Anders sehen die Zahlen in Österreich aus: Dort lag der Anteil des Bahnverkehrs an den ­Personenkilometern 2018 laut dem Datenanbieter Statista bei etwa 13 %, der des Pkws bei „nur“ 77 %. Der Rest entfiel auf Busse. Mitten in der langsam zu Ende gehenden Pandemie lassen aktuellere Zahlen leider noch auf sich warten.

Die „15-Minuten-Stadt“

Im Sommer 2020 veröffentlicht eine internationale Koalition von Stadtoberhäuptern ein interessantes Papier mit dem Namen: „Mayors’ Agenda for a Green and Just Recovery“. Das Credo: ein progressiver Urbanismus mit der Stadt als Motor des Aufschwungs. Angedacht sind Investitionen in erneuerbare Energien, energieeffiziente Gebäude, einen verbesserten Nahverkehr und Ausgaben für neue Parks und Grünflächen. Eine der Empfehlungen: Alle Grossstadt­bewohner*innen könnten in „15-Minuten-Städten“ leben. Dieser ­Begriff spiegelt sich in der Arbeit der ­Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo wider, die für eine autofreie Verkehrs- und Fussgängerinfrastruktur in der französischen Hauptstadt kämpft. Jeder Bürger und jede Bürgerin soll demnach in der Lage sein, alle Bedürfnisse in Sachen Einkaufen, Arbeit, Freizeit und Kultur innerhalb von 15 Minuten zu Fuss oder mit dem Fahrrad zu erledigen. Der Spin wird auch zum Kernstück von Hidalgos Wiederwahlkampagne „Paris respire“, also: „Atme, Paris.“ Hinter der Idee steckt Carlos Moreno: Der Professor arbeitet an der französischen Universität Sorbonne als Experte.

Was wir alle durch die Coronapandemie erlebt haben: Innerhalb weniger Tage bleiben die meisten daheim und der massenhafte Wechsel zum „Arbeiten von zu Hause aus“ lässt mehrstündige Pendelfahrten plötzlich völlig verschwenderisch erscheinen. In der Megalopolis Paris, die schon vor der Pandemie Einwohner*innen verlor, schuf die Bürgermeisterin daher Fakten: Sie liess den Verkehr entlang der Seine verbieten – und an manchen Sonntagen sogar entlang der Champs-Élysées. Auch die Hauptverkehrsader Rue de ­Rivoli wurde über Nacht in eine mehrspurige Fahrradautobahn verwandelt.

Eine im April 2021 im Netz veröffentlichte Studie von „Proceedings of the National Academy of Sciences“ belegt: Das Hinzufügen von Radwegen zu städtischen Strassen erhöht die Zahl der Radfahrer*innen in der gesamten Stadt. Die Studie nennt auch eine Ziffer: Um bis zu 48 % nahm der Radverkehr in jenen Städten zu. Wie würden unsere Metropolen wohl aussehen, wenn mehr Bürgermeister*innen Hidalgos Linie folgten?

Wenn wartend Strom fliesst

Auch in Oslo bewegt sich etwas. Laut den Plänen der Stadtregierung sollen in der fast eine Million Einwohner*innen zählenden Stadt in vier Jahren alle Taxis elektrisch unterwegs sein. Nur: Wie werden diese aufgeladen? Sollen Hunderte Ladesäulen das Stadtbild prägen? Die Fahrer*innen nutzten in einem Test 25 besondere E-Taxis – in diese verbaute man zuvor ein induktives Ladesystem. Die Idee: Während die Taxis auf Gäste warten, fliesst von unten Strom in die E-Auto-Batterie. So erhöhte sich die Reichweite in 15 Minuten um 80 Kilometer.

Erkannt wurden die ­individuellen ­Ladepads dabei von den jeweiligen Zapfstellen automatisch. Die Idee dazu kam dem ehemaligen Architekturstudenten Andrew Daga vor ein paar Jahren. Der heutige Vorstandsvorsitzende der Firma Momentum Dynamics wünscht sich eine schnelle Umstellung aller Transport- und Logistikformen auf saubere Elektroantriebe. Fahrzeuge sollten automatisch, kostengünstig und ohne unansehnliche Infrastruktur mit Energie versorgt werden. Die Technologie dahinter basiert auf dem Prinzip der elektromagnetischen Induktion: Dazu wird Wechselstrom in eine Empfangsspule eingespeist, die dann ein Magnetfeld bildet. Jenes wird von einer zweiten Spule eingefangen, die nun Wechselstrom erzeugt. Bisher sind E-Auto-Nutzer*innen an den Nachschub für ihre Batterie per Stromkabel gewöhnt; ein unkompliziertes, induktives Laden könnte die Akzeptanz von E-Autos deutlich erhöhen.

Mensch versus KI

Auch in einem anderen Bereich der Mobilität gibt es in Europa gute Neuigkeiten. Es stellt sich die Frage: Steht der Beruf des Formel-1-Piloten vor dem Aus? Diese Idee verfolgt der CEO der Bolidenrennserie Roborace: Lucas di Grassi kümmert sich um elektrisch und autonom agierende Rennautos. Die Hälfte des Rennens wird dabei vom Fahrer gefahren, in der zweiten Hälfte steigt der Pilot aus und wird durch eine künstliche Intelligenz namens Devbot 2.0 ersetzt. Diese beginnt, das Fahrzeug wie von Geisterhand autonom zu lenken. Die Frage bleibt: Wollen wir uns so einen Sport in der Zukunft überhaupt noch leisten?

Bewegung auf dem Mond

Apropos Akzeptanz: Heben wir in einer sternenklaren Nacht den Blick, sehen wir den Mond. Nun wird über eine Siedlung dort oben spekuliert, und andere Raumfahrtvisionär*innen bringen sogar einen Pendelverkehr zwischen Terra und Luna aufs Tapet. Der Erd­trabant als Startrampe für die Erkundung des Sonnensystems? Bei der Architekturbiennale 2021 wurde das Konzept eines „Moon Village“ gezeigt.

Der Mond ist reich an Materialien, die sich zur Treibstoffgewinnung eignen. Es gibt dort Titan, Eisen und vereistes Wasser an den Kraterböden in den Pol­regionen. Zudem besitzt der Mond eine sechsmal niedrigere Anziehungskraft als die Erde – neuartige Raumschiffe könnten dort mit weniger Energieaufwand von der Oberfläche in den Weltraum abheben. „Wenn ich vom ,Moon Village‘ spreche, stelle ich mir keine Wohnhäuser oder Kirchen vor. Die Idee bezieht sich auf ein Dorf, in dem Menschen zusammenleben und arbeiten. Die Teilnehmer*innen dieser permanenten Mondbasis können in der Wissenschaft, der Grundlagenforschung oder der Gewinnung von Rohstoffen aktiv sein“, definierte es der ehemalige Generaldirektor der Europäischen Raumfahrtagentur ESA, Johann-Dietrich Wörner.

„Laut Wörner wird das ,Moon Village‘ gebaut“, sagt Piero Messina dazu. Messina trieb bei der ESA das Konzept der Mondkolonie jahrelang voran. Nur: Wie wird man sich auf dem lebensfeind­lichen Mond fortbewegen? Dort schwanken die Temperaturen zwischen minus 160 und plus 130 Grad Celsius, die Oberfläche wird konstant von kosmischer Strahlung und Meteoriten traktiert. Diese Frage wird noch zu lösen sein.

Ob „15-Minuten-Stadt“, induktives Laden, Roboterfahrzeuge oder die Bewegung hin zum und auf dem Mond: „Wir durchleben eine Zeit des Wandels“, sagt der Vizepräsident des US-Autodienstleisters Lyft, Raj Kapoor. Welche Fortbewegung sich noch zu unseren Lebzeiten wohl durchsetzt …?

Foto: U. Wolf
Text: Matthias Lauerer

tuw.media-Redaktion

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