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Innerhalb weniger Wochen hat Covid-19 grosse Veränderungen in der Art und Weise, wie wir arbeiten, lernen und handeln, ausgelöst. Wir stehen am Beginn einer neuen Ära – einer intelligenteren und gerechteren.
Wir befinden uns im surrealen Jahr 2020. Die Welt transformiert sich in einem Tempo, wie sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht verändert hat. Die bedeutendste Veränderung vollzieht sich in unserem Wirtschaftssystem: Denn der Kapitalismus, der wohl grösste Motor für Wohlstand und Innovation, war bereits vor der Coronavirus-Pandemie unter Druck. Trotz eines Jahrzehnts beeindruckenden Wirtschaftswachstums und der Schaffung von Arbeitsplätzen fühlten sich viele US-Amerikaner vom System manipuliert, und die Coronakrise hat dieses Gefühl bei vielen nur verstärkt. Doch inmitten des Chaos und der desorientierenden Paradigmenwechsel vollzieht sich auch etwas Tiefgreifendes: Die „unsichtbare Hand“ arbeitet an sich selbst. Endlich haben wir die Ära des wirtschaftlichen Inkrementalismus beendet. Langsame und leichte Verbesserungen reichen im Moment nicht aus; die Zeiten verlangen systemische Lösungen, die grösser sind als das, was wir vorher hatten. Grösserer Kapitalismus – und drei binäre Formeln, die alle „grösser als“ lauten, fassen zusammen, was sich in den letzten Wochen herausgebildet hat.
I. Chancengleichheit > Ergebnisgleichheit. Das Virus hat grundlegende Probleme freigelegt, von denen die USA schon länger betroffen sind: People of Color haben unverhältnismässig viele Todesfälle, Krankheiten und höhere Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Robert Smith, der reichste afroamerikanische Selfmade-Milliardär mit einem Nettovermögen von fünf Milliarden US-$, hatte sich bereits darauf konzentriert, mehr Möglichkeiten für junge Schwarze zu schaffen. Durch die Tilgung der Studentenschulden des Jahrgangs 2019 des Morehouse College tat er erste Schritte in diese Richtung, doch die Coronapandemie eröffnete mehr Schieflagen als erwartet. Ein Dorn in Smiths Auge war der Umgang mit diversen Covid-19-Fördergeldern – diese gingen im April vormals an grosse Unternehmen, die wussten, wie das System funktionierte. Smith setzte sich also ein, dies zu ändern.
Die Suche nach einer Lösung liess ihn erkennen, dass diese PPP-Gelder (PPP: Paycheck Protection Program) durch das elektronische System der Small Business Administration geleitet worden waren – ein System, zu dem nur die grossen Banken Zugang hatten. „70 % der afroamerikanischen Viertel haben keine Banken“, sagt Smith. Und selbst wenn es sie gäbe, schätzt Smith, dass etwa 90 % der afroamerikanischen Unternehmen Einzelunternehmen sind, denen die Bankbeziehungen fehlen. Aber nicht für jede Barriere gibt es einen altruistischen Milliardär, der bereit ist, sie zu durchbrechen. Das erklärt, warum so viele Menschen, besonders die der jüngeren Generationen, den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts infrage stellen. Wenn ihnen das gegenwärtige System nicht die gleichen Erfolgschancen bietet, werden Versprechungen von mehr Gleichberechtigung den Sieg davontragen. Damit die jüngeren Generationen die USA als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten erleben können, muss das von Ungleichheiten malträtierte System jetzt verändert werden. Das beginnt mit der Bildung und setzt sich fort im Gesundheitswesen: Im gesamten vergangenen Jahrhundert hatten die Hochschulen wenig Anreiz, auf Kosten zu achten, da sie einen Kundenstamm bedienten, der garantierte Kredite anzapfen konnte – mit virtueller Bildung ist der Geist nun aus der Flasche. Dasselbe gilt für das Gesundheitswesen: Wie die Online-Bildung hat sich auch die Telemedizin innerhalb weniger Wochen von der Zukunftstheorie zur universellen Realität entwickelt. Gute Erfahrungen werden sich in einer raschen Akzeptanz niederschlagen, und die Ergebnisse sind fast schon vorbestimmt: höhere Reichweite, niedrigere Kosten. Der Schlüssel, um aus dem Coronavirus-Tief herauszukommen, ist die permanente Einbettung der derzeit vorerst nur temporären Veränderungen in das System.
Randall Lane
... ist Chief Content Officer bei Forbes Media und Herausgeber des Forbes Magazine. Er erschuf zudem die „Under 30“-Kampagne und den Forbes 400 Summit zum Thema Philanthropie. Darüber hinaus ist Lane Mitgründer des P.O.V.-Magazins und von Doubledown Media (Trader Monthly, Dealmaker, Private Air usw.).
II. Stakeholder > Aktionäre. Seit die Pandemie im März die Berufstätigen New Yorks nach Hause geschickt hat, beruft Verizon-CEO Hans Vestberg täglich um acht Uhr morgens einen virtuellen Kriegsrat ein. Von Anfang an beschloss sein zehnköpfiges Team, jedes Thema mittels eines vierteiligen Prismas in einer bestimmten Hierarchie anzugehen: zuerst Mitarbeiter, dann Kunden, gefolgt von der Gesellschaft und schliesslich den Aktionären. Wie sieht also der Stakeholder-Kapitalismus bei Verizon aus? Von seinen 145.000 Mitarbeitern hat Vestberg keinen einzigen gekündigt. Diejenigen, die im Aussendienst tätig sind, haben eine Gefahrenzulage bekommen; jeder im Unternehmen, der sich mit dem Virus infiziert, erhält 26 Wochen bezahlten Krankenstand. Die 120.000 von zu Hause aus werkenden Mitarbeiter, von denen viele für Aufgaben eingestellt wurden, die derzeit nicht existieren, werden entsandt, um bei unternehmensweiten Projekten oder den freiwilligen Bemühungen von Verizon zu helfen.
Das Ziel ist mehr als nur ein Gehaltsscheck – es ist dazu bestimmt, in einer schwierigen Zeit einen Zweck zu erfüllen. Was die Kunden betrifft, so hat Verizon versprochen, Verträge mit denjenigen, die nicht zahlen können, nicht sofort zu beenden. „Wenn man seine Kunden in schwierigen Zeiten zurücklässt, kommen sie nie wieder“, sagt Vestberg. Und auch gesellschaftlich nimmt Verizon Vorbildhaltung ein: Das Unternehmen hat jedem Highschool-Schüler in den USA ein Abonnement der New York Times zur Verfügung gestellt, kümmert sich um die Konnektivität und die Geräte für Kinder an 350 Schulen und veranstaltet jede Woche kostenlose „Pay It Forward“-Konzerte mit Auftritten von Künstlern wie Billie Eilish und Chance the Rapper. Die Aktionäre? Die Wall Street scheint ihren Platz in der Hackordnung von Verizon akzeptiert zu haben. „Bislang hat sich niemand beschwert“, sagt Vestberg. Natürlich ist es für ein margenstarkes, technologieorientiertes Unternehmen wie Verizon einfacher, das Richtige zu tun – aber auch Einzelhändler mit niedrigen Margen wie Dollar General, Walmart und Target gehören zu den Top-25-Unternehmen auf der Liste der Forbes Corporate Responders. Und wenn sich das jetzt nach einer Menge Mitarbeiterfokus anhört, dann soll es so sein: Das ist es, was die Amerikaner wollen. In diesem neuen „Greater Capitalism“ bedeutet eine gute Behandlung der Arbeitnehmer keinen Konflikt mit den geschäftlichen Notwendigkeiten. Es bedeutet nur, ihnen den gebührenden Respekt zu erweisen.
Drei Formeln für besseren Kapitalismus
(Quelle: Forbes US)
III. Heutige Lösungen > morgige Lösungen. Als die Pandemie einschlug, mussten viele Kinder erstmals von zu Hause aus den Schulunterricht mitmachen. So war es auch bei Ray Dalios Kind: Der Sohn des Hedgefondsmanagers konnte den Unterricht ohne Probleme zu Hause geniessen – doch so ging es nicht allen Kindern. Die meisten der wirtschaftlich Benachteiligten litten unter Nahrungsmittelmangel und lebten in einer Dichte, die ihnen den privaten Raum entzog und die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden, erhöhte. Und 22 % hatten keinen Zugang zu einem Computer zu Hause (geschweige denn zu einem eigenen Rechner) und auch keine zuverlässige Verbindung. Unterstützt durch eine frühere Zusage von Dalio in Höhe von 100 Millionen US-$, die vom Bundesstaat Connecticut übernommen wurde, organisierte eine Gruppe von Menschen – darunter Bill Gates und Microsoft, Michael Dell und Dell Technologies sowie die führenden Vertreter der Legislative und des Bildungswesens Connecticuts – 60.000 voll ausgestattete Computer, die an einkommensschwache Studenten geliefert wurden. Für Dalio (siehe Openerbild), der nach Forbes-Schätzungen 18 Milliarden US-$ schwer ist, war diese Entscheidung eine Selbstverständlichkeit: ein ROI-getriebenes Ergebnis im Herzen eines Grosskapitalismus. Sie ist auch ein Vorbote dafür, wohin die Philanthropie derzeit geht, die als Risikokapital für Problemlösungen dienen kann, um Konzepte zu erproben und vielleicht auch die Fehler zu machen, deren Risiken Regierungen gar nicht erst wagen.
So nutzen Schlüsselakteure diese Krise, um Philanthropie mit Transparenz und einer Philosophie des „Gebens, während man lebt“ zu verändern. Im Mai forderte eine Gruppe von mehr als 275 Philanthropen und Fachleuten, angeführt vom 100 Millionen US-$ schweren Wallace Global Fund, die Mindestausgaben für Stiftungen und von Spendern empfohlene Fonds für die nächsten drei Jahre auf 10 % zu verdoppeln. Der Einsatz könnte im Moment nicht höher sein. Wir befinden uns jetzt auf einem Scheideweg: auf dem Weg zu einem grösseren Kapitalismus oder einer anhaltenden gesellschaftlichen Ausfransung und der ernüchternden Alternative, dass dies alles umsonst gewesen wäre. „Wir werden eine Revolution der einen oder anderen Art haben“, sagt Dalio. „Entweder wird sie schlecht sein, oder wir handeln mit Bedacht – gemeinsam.“
Text: Randall Lane / Forbes US
Foto: Martin Schoeller / Forbes US
Der Artikel ist in unserer Juni-Ausgabe 2020 „Next“ erschienen.