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Erst formen wir die Stadt, dann formt sie uns. Doch stehen in der urbanen Zukunft Menschen oder Maschinen im Fokus? Eine Reise zwischen Realität und Dystopie.
Der studierte australische Architekt Liam Young hat sich von der traditionellen Stadtplanung abgewandt. Er bezeichnet sich selbst als spekulativen Architekten, der Prototypen potenzieller urbaner „Zukünfte“ – Plural! – entwirft. Er beobachtet die technologischen Errungenschaften der Welt und versucht zu erahnen, wie die urbanen Räume bald aussehen könnten. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind datengetrieben und verändern unsere Kultur gänzlich. Seine Science-Fiction-Projekte sollen die Menschen aber vor allem wachrütteln und zum kritischen Denken auffordern. Denn die Zukunft ist nicht nur rosig, wie er sagt.
Der renommierte Stadtplaner – und ebenfalls Architekt – Jan Gehl steuert gegen diesen technologiegetriebenen Trend. In Städten von Kopenhagen bis Sydney rückt er den Menschen im Rahmen diverser Projekte in den Mittelpunkt. Gehl verwirklichte viele seiner Konzepte in seiner Heimatstadt Kopenhagen. So nutzte er etwa auch Europas längste Fussgängerzone, die Strøget, für seine Forschungszwecke über das Leben von Menschen im urbanen Raum.
Der 81-Jährige kam in der Nacht vor unserem Gespräch gerade erst vom World Cities Summit aus Singapur zurück. Seine Sommerhütte befindet sich auf der dänischen 340-Einwohner-Insel Sejerø. Der Handyempfang ist dort so schlecht, dass er auf einen höher gelegenen Punkt der Insel fahren muss, damit wir ihn verstehen können.
Wir führten jeweils ein Interview mit den beiden Stadtplanern – um dies dann zu einem grösseren Interview über die „Stadt der Zukunft“ zusammenzuführen.
Herr Gehl, welche Gedanken nehmen Sie aus Singapur mit, wenn Sie zurück in Ihre idyllische Hütte auf Sejerø kommen?
Jan Gehl: In Singapur wurde mir wieder klar, dass die Insel dort einfach zu klein und übervölkert ist, um jeden Menschen mit vier Gummirädern fahren zu lassen. So viele Städte haben das menschliche Mass aus dem Blick verloren.
Bauen wir die Städte derzeit denn nicht für Menschen?
JG: Wenn ich auf Google nach „Future City“ suche, erscheinen lauter Bilder schrecklicher Orte. Dort würde ich meine Enkelkinder niemals aufwachsen lassen. Es sind enorm hohe Gebäude mit komischen Formen zu sehen und überall fliegen Drohnen. Wir glauben, selbstfahrende Autos lösen alle unsere Probleme. Und was dann noch übrig ist, regelt die Smart City. Das halte ich aber für falsch. Die Zukunft hat schon begonnen. Aber vielleicht geht es ja nicht darum, einen Haufen Geld mit Gadgets zu machen, sondern darum, näher am Homo Sapiens selbst zu sein.
Jan Gehl
… ist ein dänischer Architekt und Stadtplaner. Er schrieb Bücher wie „Leben zwischen Häusern“ und gründete das Architekturunternehmen Gehl Architects. Damit ist er in Stadtplanungsprojekte in Kopenhagen, Amman, Sydney, Shanghai, New York oder London involviert. Die längste Fussgängerzone Europas, die Strøget in Kopenhagen, nutzt er etwa als sein „Forschungslabor“.
Herr Young, welche Schlüsse kann die Stadtplanung aus Ihren Science-Fiction-Projekten ziehen?
Liam Young: Niemand kann verneinen, dass selbstfahrende Fahrzeuge unsere Städte komplett verändern werden. Eine Aufgabe der spekulativen Architektur kann es also sein, auch ungewollte Konsequenzen sichtbar zu machen. Wie wollen wir unsere Strassen, unsere Städte und unser Leben überhaupt verändern? Das Gleiche gilt für die „Zukünfte“ von Drohnen, städtischer Infrastruktur, dem Internet of Things (IoT) und gigantischen Netzwerken. All diese Technologien verändern unser Denken darüber, was eine Stadt eigentlich ist. Die grössten Fragen sind jetzt nicht mehr wie wir Städte physisch formen, sondern welches Spektrum Technologien und Plattformen einnehmen sollen. Dazu gehört auch der Umgang mit Uber, AirbnB, Augmented und Virtual Reality.
Ist der traditionelle Architekt also ein aussterbender Beruf?
LY: Ich glaube nicht, dass die Rolle eines traditionellen Architekten verschwinden wird. Designer für Louis-Vuitton-Handtaschen gibt es ja auch noch. Wir leben in einer Welt, in der wir unsere Städte mit der nächsten Generation von Google Glass vielleicht ganz anders sehen. Vielleicht haben die Fassaden unserer Gebäude dann eher den Charakter eines Green Screens aus dem Fernsehstudio, die wir alle selbst digital gestalten können.
Liam Young
… ist ein australischer Filmemacher und bezeichnet sich selbst als spekulativen Architekten. Er entwirft Prototypen einer möglichen urbanen Zukunft, bei denen neue Technologien im Vordergrund stehen. Mit seinem Think Tank „Tomorrow’s Thoughts Today“ und dem Forschungsprogramm „Unknown Fields“ entwirft er fiktive Städte, deren kulturelle Folgen er in Form von Science-Fiction-Projekten hinterfragt.
Kommen wir zurück in die Gegenwart. Herr Gehl, Sie leben seit 80 Jahren in Kopenhagen und sind seit Jahrzehnten in der Stadtplanung involviert. Welche Ansätze verfolgt „Ihre“ Stadt?
JG: Bei einem Vortrag in Vietnam kam eine Frau auf mich zu und meinte, Kopenhagen müsse doch einen richtigen Babyboom verzeichnen. Das stimmt natürlich nicht. Wir haben eher ein Nachwuchsproblem. Ihre Vermutung leitete sie aber von den vielen Kindern in der Stadt ab. Ein Qualitätszeichen einer Stadt ist also, wie viele junge und alte Menschen unterwegs auf den Strassen und Plätzen sind. Vor 50 Jahren startete in Kopenhagen eine – wie ich sie nenne – „menschenorientierte Stadtplanungspolitik“. Kopenhagen bringt die Leute dazu, mehr zu Fuss unterwegs zu sein, mehr Fahrrad zu fahren und öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, indem die Infrastruktur einladend ausgestaltet ist. 41 Prozent der Bevölkerung in Kopenhagen pendeln mit dem Fahrrad zur Arbeit. Seit 2009 verfolgt Kopenhagen nun das Ziel, die weltbeste Stadt für Menschen zu werden.
Herr Young, Sie stellen die Städte in Ihren Kurzfilmen oft düster und karg dar. Eine Ihrer Ausstellungen heisst auch „Fear and Wonder“ („Furcht und Wunder“, Anm.). Müssen wir uns vor der Stadt der Zukunft fürchten?
LY: Es wäre komplett naiv zu sagen, dass sich alles zum Besseren entwickelt. Meistens wird uns Innovation aber als Lösung verkauft. Wenn Elon Musk auf der Bühne steht und seine Visionen für Solarenergie und Akkus präsentiert, dann sagt er nicht dazu, dass er dafür Seltene Erden als Ressource benötigt, die es nahezu nur in drei Ländern der Erde gibt. Ein Grossteil des Lithiumvorkommens (wichtiger Bestandteil von Lithium-Ionen-Akkus in Elektrofahrzeugen, Anm.) befindet sich in Bolivien. Wenn seine Prognose wahr wird, müsste er ganz Bolivien kaufen – und Bolivien wird zum neuen Dubai. Damit sage ich aber nicht, wir sollen weiterhin schwarzes Zeug (Young meint damit Erdöl, Anm.) aus der Erde pumpen und die Gesteinsschichten der Welt fracken. Wir müssen uns einfach alle möglichen „Zukünfte“ ausmalen, nicht nur die schönen Seiten, die sich gut in einem Tweet machen.
Haben digitale Netzwerke in Städten bald einen höheren Stellenwert als physische Gebäude?
JG: Bestimmt nicht. Der Homo Sapiens ist ein soziales Geschöpf und sein grösstes Interesse gilt anderen Menschen. Wenn wir uns nur auf Cyberspaces konzentrieren, werden wir bald etwas vermissen. In Dänemark leben die Menschen etwa 20 Jahre in Pension. Irgendwo im Freien müssen sie ja ihre Freizeit verbringen. Meine Erfahrung ist: Wann immer wir öffentliche Plätze gestalten, kommen die Menschen auch dort hin. Sogar in Singapur, wo es heiss oder in Grönland, wo es kalt ist. Einige der grössten Outdoor-Cafés, die ich je gesehen habe, waren in Island.
LY: Bis zu einem gewissen Grad glaube ich, dass das bereits so ist. Ich pendle zwischen London und Los Angeles und interagiere dort nicht mit meinen Nachbarn. Meine Kontakte basieren darauf, wer im Moment gerade online ist und mit welchen Plattformen ich verbunden bin. Das heisst aber nicht, dass physische Plätze nicht mehr wichtig sind. Wir verwenden das Wort „virtuell“, als wäre es komplett unabhängig vom realen Raum. In Los Angeles bin ich abhängiger vom Uber-Netzwerk als von der Parkinfrastruktur. Virtuelle und physische Systeme können nicht mehr voneinander getrennt werden.
Ist das eine fehleranfällige Welt, die wir da erschaffen?
LY: Unsere Städte tragen prinzipiell die Kapazität für Fehler in sich, das stimmt. Die ganze technische Optimierung hat natürlich ihren Preis: Viele Dienstleistungen, die früher demokratisch gewählte Regierungen erbracht haben, werden jetzt an proprietäre Algorithmen von Unternehmen ausgelagert. Die sind aber nicht der Wählerschaft verpflichtet, sondern ihren Aktionären. Diese radikale Verschiebung in der Machtstruktur ist heimlich durch die Hintertür hereingekrochen und hat sich als „Optimierer“ vorgestellt, der alles besser macht. Wir bauen zwar keine fehleranfällige Stadt, aber wir sind uns nicht ganz bewusst, was wir aufgeben, wenn wir die Technologien in unser Leben lassen. Meine Arbeit ist auf unterschiedliche Weise auch ein Warnsignal. Denn nicht alle Errungenschaften sind produktiv und positiv. Kommen werden sie aber trotzdem.
Herr Gehl, bis 2050 leben laut den Vereinten Nationen 68 Prozent der Weltbevölkerung in Städten – und damit steigen auch die Herausforderungen. Gibt es dafür einen Masterplan?
JG: Die Menschen strömen zwar in die Städte, aber 90 Prozent dieser Entwicklung wird in Afrika und Südostasien stattfinden. Für die ärmsten Regionen der Welt sind die Grundprinzipien über Städte und Menschen erst recht wichtig, weil sie dort günstig und realisierbar sind. Wir lesen zwar immer über Luftverschmutzung in Städten wie Neu-Delhi, aber langsam kommt eine Bewegung in Gang – nämlich hin zur menschenfreundlichen Stadt. Alle australischen Städte sind auf diesem Weg. Auch New York baut kilometerlange Fahrradwege. Selbst Städte wie Moskau, von denen man es kaum glauben würde, machen eine grossartige Kehrtwende, pflanzen Bäume und erweitern Gehsteige. So können sich die Menschen wieder mit der Geschwindigkeit bewegen, für die sie gemacht sind.
Viele Stadtverwaltungen setzen auf komplett neue Viertel, wie die Wiener Seestadt, Tianfu New Area (China), London King’s Cross und Nordhavn (Dänemark). Was halten Sie von der Idee neuer Stadtgebiete, wo Menschen wohnen, arbeiten und leben sollen?
JG: Unser Büro (Gehl Architects, Anm.) wollte einmal ein Buch über die besten neuen Städte des 21. Jahrhunderts schreiben. Nach einem Monat Recherche kamen wir darauf: Das wird das dünnste Buch der Welt. Denn viele junge Architekten wiederholen die Fehler der Modernisten. Ich sage immer, wenn du den Homo Sapiens durch alle seine Sinne wahrnimmst, seine Bewegungen nachvollziehst und seine Interessen verfolgst, dann bist du als Stadtplaner und Architekt auf dem richtigen Weg. Manche Projekte, auch die Seestadt, könnten aber durchaus akzeptabel werden.
Herr Young, streiten wir uns in den Städten der Zukunft eher um einen Balkon auf der Südseite oder um den nächstgelegenen Drohnen-Landeplatz?
LY: Wir sind an einem Punkt angelangt, wo der Zugang zu Tageslicht weniger signifikant ist als der Zugang zum Internet. Der Anspruch, ein Haus, ein Auto oder einen Hund zu besitzen, existiert heutzutage immer weniger. Was wir benötigen sind neue Modelle des Besitzes, wie Sharing-Plattformen und Co-Ownership. Die Meinungen zum Wohnen haben sich verändert – weil sich auch die Meinung darüber verändert, was überhaupt eine Familie ist. Selbst die Definition eines Ortes verändert sich.
Müssen wir unsere Begegnungszonen bald auf Drohnen ausdehnen?
JG: Ich bin sehr besorgt, wenn ich sehe, wie sich diese Gadgets verbreiten. Denn das wird unser Leben in vielerlei Hinsicht beeinträchtigen. Also vielleicht müssen wir Drohnen tatsächlich in manchen Regionen verbieten.
Wie werden Städte in 30 Jahren aussehen?
LY: Ich glaube, wir werden unser Leben sehr bald mit einer ganzen Reihe von Maschinen und Objekten teilen, die ihr eigenes Leben und ihre eigenen Verhaltensmuster haben. Die dominante Spezies in urbanen Gegenden wird eher maschinenartig als menschlich sein – auch in Form von Softwareplattformen. Es wird zwar keine „Blade Runner“-Zukunft, sondern sie wird stark aussehen wie unsere Welt. Vielleicht wie bei „Black Mirror“ (Science-Fiction-Serie, Anm.), wo alles zu einem grossen Netzwerk mit intelligenten Objekten verbunden ist, die einander zuhören und miteinander reden.
JG: Sicher weiss ich nur, dass ich dann tot bin (lacht). Ich habe erlebt, wie sich Kopenhagen in 50 Jahren jeden Tag ein Stück weit verbessert hat. Das passiert in kleinen Schritten, nicht mit grossen Revolutionen. Ich hoffe diese Entwicklungen setzen sich auf der ganzen Welt fort.
Text: Marcel Kilic
Dieser Artikel ist in unserer Sommer-Ausgabe 2018 „Stadt – Land – Berg“ erschienen.