Frei­schwimmen

Von einer Sekunde auf die andere änderte sich Andreas Ernhofers Leben 2014 schlagartig – bei einem Kopfsprung ins Wasser brach er sich drei Halswirbel und ist seitdem querschnittsgelähmt. Doch unterkriegen liess er sich davon nicht: Heute gehört Ern­hofer zu den schnellsten Schwimmern Österreichs. Von seinem Weg in den Behindertensport und seinen nächsten (unter anderem unternehmerischen) Zielen erzählt der „Under 30“-Listmaker an seinem Trainingsort im Gespräch mit Forbes DA.

An der Wand strahlt ein überdimensionaler Bildschirm. Auf blauem Hintergrund sieht man  in weisser Schrift „606 DAYS. 5:24:02“ stehen. Der Screen zählt die Tage, Stunden, Minuten  und Sekunden bis zu den nächsten Olympischen Spielen. Und direkt unter ihm, im 50 Meter langen Schwimmbecken im Trainingszentrum Südstadt nahe Wien, trainieren auf acht Bahnen Schwimmer genau auf dieses Ereignis hin. An­dreas Ernhofer muss sich jedoch noch länger als seine Trainingskollegen gedulden – um genau zu sein, 30 Tage länger. Denn dann beginnen die Paralympischen Spiele 2024 in Paris. Ernhofers grosses Ziel: eine Medaille bei den Paralympics gewinnen. Und in Paris soll das klappen.

Um sein Ziel zu erreichen, trainiert Ern­hofer hart. Auch an diesem Tag bewegt der Schwimmer seinen Rollstuhl – wie jeden Tag um 8.30 Uhr morgens – vor die Kante des Schwimm­beckenrands, hebt sich vom Rollstuhl auf den Startsockel und lässt sich ins Wasser fallen. „So beginnt jeder Tag bei mir – es ist ein Sprung ins kalte Wasser“, so Ernhofer. Was für andere eine Herausforderung wäre, ist für ihn Routine.

Es ist genau diese Disziplin, die ihn dort­hin gebracht hat, wo er heute ist. Ernhofer war bereits Bronzemedaillengewinner bei der Euro­pa­meisterschaft im Paraschwimmen, der bestplatzierte österreichische Schwimmer bei den Paralympics in Tokio 2021 sowie Vizewelt­meister bei der diesjährigen WM auf Madeira. Insgesamt hält er 19 österreichische Rekorde im Paraschwimmen – und das mit erst 25 Jahren.

Dass sich Ernhofer im kühlen Nass so wohl fühlt, ist auf den ersten Blick eher ungewöhnlich, denn bei einem Sprung ins Wasser veränderte sich sein Leben im Sommer 2014 schlagartig: Bei einem Kopfsprung brach er sich wegen des unglück­lichen Winkels, mit dem er ins Wasser sprang, drei Halswirbel und ist seither querschnitts­gelähmt. Seine beiden Cousins zogen ihn aus dem Wasser und retteten ihm so das Leben. Ernhofer: „Ich wusste, dass ich nach meinem Unfall un­bedingt wieder ins Wasser möchte. Für mich war klar: Das Wasser hat mir ja nicht absichtlich das Genick gebrochen. Wenn ich also nie wieder ins Wasser gehe, bin nur ich selbst der Leidtragende.“ Ernhofer war ursprünglich von der Schulter abwärts gelähmt. Doch entgegen den Prognosen seiner Ärzte schaffte es der damals 17-Jährige nach wochenlangem Training, seine Arme wieder zu bewegen. Parallel zu seinem Schulabschluss und später neben dem Studium arbeitete Ernhofer mit diversen Therapeuten zusammen und fand so als Paraschwimmer seinen Weg in den Profisport.

Ernhofer fällt es nicht schwer, über seine Geschichte zu sprechen, ganz im Gegenteil: Ihm ist es ein Anliegen, dass sie an die Öffentlichkeit kommt und Menschen sich daran orientieren können. Um diesen Zweck zu erfüllen, macht er sich seit Kurzem auch als Motivational Speaker einen Namen. „Ich erzähle von Dingen, die ich im Verlauf meines Lebens – sowohl vom Kampf zurück ins Leben als auch vom Spitzensport – gelernt habe. Das ist, was anderen Leuten Perspektive und Motivation gibt. Wenn ich Leuten helfen kann, dass sie aus einer schweren Lebenssituation herauskommen und so wieder Lust fassen und Freude am Leben haben, ist das auch ein Erfolg für mich persönlich.“

Eine Person, mit der Ernhofer seine Erfolge teilt, ist sein Cousin Stefan Ernhofer. Er ist einer der beiden, die ihn damals aus dem Wasser zogen. Stefan machte damals gerade eine Aus­bildung zum Physiotherapeuten und begleitete seinen Cousin nach dem Unfall als Praktikant in einem Rehabilitationszentrum bei der Therapie. Der frühere Staatsmeister im Schwimmen, Stefan, ist heute Ernhofers Trainer. „Wir haben durch den Unfall und das gemeinsame Training eine sehr enge Verbindung und wollen unser Projekt, die paralympische Medaille, gemeinsam in Angriff nehmen“, sagt Andreas Ernhofer.

Doch Ernhofer ist nicht „nur“ Schwimmer. Neben seiner sportlichen Karriere studiert der 25-Jährige medizinische Informatik an der TU Wien. Oftmals ist es eine Herausforderung, beides unter einen Hut zu bringen, da sowohl Karriere als auch Studium viel Zeit in Anspruch nehmen. „Im Prinzip versuche ich schon, die letzten Jahre zu verknüpfen und anzuwenden, was ich im Studium lerne. Und wenn ich irgendwann der sportlichen Karriere nicht mehr nachkommen kann, werde ich in der medizinischen Informatik arbeiten. Das ist etwas, was mich interessiert und wo ich hoffentlich auch meinen Teil leisten kann“, so Ernhofer.

Neben dem Schwimmen und dem Studium bleibt ihm ausserdem noch Zeit, in der Freiwilligen Feuerwehr in seinem Heimatort Deutsch-Wagram mitzuwirken. Und: Der Athlet plant noch mehr. In den nächsten Jahren will er ein eigenes Unternehmen gründen. Was genau der Inhalt sein soll, möchte er aktuell noch nicht verraten; Ernhofer sagt nur, dass das Unter­nehmen eine Schnittmenge jener Themen be­handeln wird, die ihn aktuell schon begleiten.

Aktuell gibt es aber nur einen Fokus: die olympische Medaille. Vorerst steht 2023 aber die Weltmeisterschaft an, wo Ernhofer seinen zweiten Platz verteidigen und „nach vorne angreifen“ möchte. Danach folgen bereits die Spiele in Paris. Irgendwann will Ernhofer vielleicht sogar folgende Worte sagen können: „Ich bin der schnellste Schwimmer der Welt.“ Trotz grosser Ziele ist der „Under 30“-Listmaker aber auch auf seine bisherigen Erfolge stolz: „Dass ich in so wenigen Jahren so grosse Erfolge wie einen zweiten Platz bei einer Weltmeisterschaft feiern konnte, ist für mich eine ganz grosse Belohnung. Man darf aber nicht grössenwahn­sinnig werden. Ich bin bei uns im Behindertensport noch einer der Jüngsten“, so Ernhofer.

Spitzensport wird beim österreichischen Bundesheer schon jahrzehntelang gefördert, Behindertensport erst seit Kurzem. 2016 schuf das österreichische Verteidigungsministerium die Möglichkeit, Sportler mit Behinderung als Vertragsbedienstete anzustellen. Die Vergabe der Plätze erfolgt nach strengen Leistungskriterien. Ernhofer ist seit August 2019 dabei – sein Vertrag ist vorerst auf vier Jahre befristet. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es ohne die Unter­stützung des Bundesheers nicht so schnell an die Weltspitze geschafft hätte. Mein Weg in den Profisport wurde mir durch das österreichische Bundesheer ermöglicht“, sagt er als einer von 20 Sportlern mit Behinderung beim Bundesheer. Auf seinem Trainingsanzug prangt das Logo des österreichischen Militärs; seit Kurzem darf sich Ernhofer auch „Gefreiter“ nennen.

Dass ich in so wenigen Jahren so grosse Erfolge wie einen zweiten Platz bei einer Weltmeisterschaft feiern konnte, ist für mich eine ganz grosse Belohnung. Man darf aber nicht grössenwahnsinnig werden. Ich bin bei uns im Behindertensport noch einer der Jüngsten.

Andreas Ernhofer

Neben dem Bundesheer sind es vor allem die Sponsoren, die Ernhofer finanziell unter­stützen – für eine Saison benötigt der Schwimmer nämlich rund 38.000 €. Zu seinen Geld­gebern zählen etwa Domani, eine Pizzeria aus seinem Heimatort, der Mentaltrainer „Erfolg mit Grip“, die Steuerberatung „Steuerwehr“ (beide aus Niederösterreich) und die Sport­förderinitiative „Sporthilfe“. „Bei Partnerschaften geht es nicht immer nur um Geld, es gibt auch genug andere Bereiche, in denen man sich als Sportler und als Firma gegenseitig helfen kann“, sagt Ernhofer. Er sucht bewusst nach nach­haltigen Partnerschaften, bei denen er sich mit seinen Werten gut vertreten fühlt. In den nächsten Jahren möchte er sein Budget erhöhen – wenn er die richtigen Partner findet. Ernhofer sagt dazu: „Ohne intensives Training und die best­mögliche Aus­rüstung sind Spitzenleistungen ­heute kaum noch möglich. Das funktioniert leider mit finanziellen Abstrichen nicht.“

Es ist kühl im Seminarraum des Trainingszentrums, wo das Interview stattfindet. Hier verbringt der Schwimmer sechs Tage die Woche. Weil Ernhofer ständig hier ist, hat die Leitung des Hauses ihm sogar einen persönlichen Schlafraum zugewiesen. Sein Tagesablauf? Schlafen, essen, trainieren – und wieder von vorne. Doch was treibt Ernhofer an? „Das Gefühl, wenn man gewinnt, ist unbeschreiblich. Für diese paar Sekunden Sieg ist es die harte Arbeit das ganze Jahr hundertprozentig wert. Immer wenn ich mich frage, warum ich das eigentlich mache, dann muss ich nur an einen dieser Momente zurückdenken, als ich bei der Siegerehrung eine Medaille bekommen habe.“

Andreas Ernhofer ist ein österreichischer Paraschwimmer. Mittlerweile betreibt er den Sport beruflich als Leistungssportler beim österreichischen Bundesheer. Seit 2018 ist er in der Weltrangliste unter den besten zehn Paraschwimmern; er konnte unter anderem bereits eine Silbermedaille bei der Weltmeisterschaft 2022 und zwei Bronze­medaillen bei Europameisterschaften gewinnen.

Fotos: Philipp Horak
Datenrecherche: Magdalena Frei
Infografik: Valentin Berger
Quellen: ernhofer.at, Internationales Olympisches Komitee, noen.at, paralympic.org, ZDF, Österreichisches Paralytisches Committee

Naila Baldwin

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