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Unter dem Radar hat Naren Shaam eines der vielversprechendsten Start-ups Europas aufgebaut. Nun wird aus der Reiseplattform „GoEuro“ aber „Omio“. Denn Shaam will Reisebuchungen weltweit revolutionieren.
Erfolg war keine Selbstverständlichkeit für Naren Shaam. Mit 15 Jahren bewarb er sich für einen Job in seiner Heimatstadt Bangalore. Damals tauchten die ersten Callcenter in der südindischen Stadt auf. Der aus bescheidenen Verhältnissen kommende Shaam sah eine Gelegenheit, neben der Schule etwas Geld zu verdienen. Er wurde jedoch abgelehnt – sein Englisch war zu schlecht.
Rund 20 Jahre später ist Shaam der Gründer eines der vielversprechendsten Tech-Start-ups Europas: fast 300 Millionen US-$ Finanzierung, über 300 Mitarbeiter, aktiv in 15 Ländern. Doch damit nicht genug: Gerade wurde bekannt gegeben, dass das Start-up in Omio (ehemals: GoEuro) umbenannt wird, um über Europa hinaus global wachsen zu können. Omio will die Art, wie Konsumenten Reisen suchen und buchen, revolutionieren. Verschiedene Transportarten – Flug, Zug, Bus und Fähre – von mehr als 800 europäischen Partnern werden dazu auf einer einzigen Plattform kombiniert.
Naren Shaam ist das Cover unserer Februar-Ausgabe 2018.
Expansion über Europa hinaus
In der Regel fokussieren sich die Akteure am Reisemarkt auf eines von zwei Feldern: Preise vergleichen (etwa Skyscanner oder Trivago) oder Metasearch (Tripadvisor, Google). Während Omio zu Beginn auch auf Metasearch setzte, hat Shaam das Geschäftsmodell früh angepasst, um sich auf den Ticketverkauf zu konzentrieren. Und: Es sind durchaus viele Tickets zu verkaufen. Laut Shaam werden 60 Prozent der gesamten „Ground Transportation“ (also des Nahverkehrs) in Europa offline gebucht, und die Branche hat eine Auslastung zwischen 45 und 55 Prozent. Wenn man sich nun überlegt, dass der Markt für solche Transportmittel alleine in Europa über 100 Milliarden US-$ gross sein soll, lässt sich daraus schon ein solider Geschäftsfall bauen – der Weltmarkt wird laut dem Transit And Ground Passenger Transportation Market Global Report 2019 der Business Research Company auf rund 500 Milliarden US-$ geschätzt.
Europas Nahverkehr in Zahlen
(Quelle: Omio)
Doch der in Indien geborene Gründer denkt bereits über Europa hinaus – eine Tatsache, die auch den alten Namen GoEuro schnell obsolet machte. „Unser neuer Name – Omio – ist ein klares Statement: Wir wollen ein globales Unternehmen werden. Wir sind mit Europa noch nicht ganz fertig, zum Beispiel müssen wir etwa noch Portugal oder Irland integrieren. Doch wir wollen bereits jetzt darüber hinaus expandieren und unseren Traum einer globalen Reisemarke realisieren.“ Shaams nächste Ziele? Entweder Nord-, Südamerika oder Ostasien.
Letztendlich, so Shaam, komme es darauf an, wo das Unternehmen seine ersten grossen Verträge unterschreibt. In Sachen Nahverkehr hat sich Shaam jedenfalls den relevantesten Markt zuerst vorgeknöpft. Westeuropa ist mit einem Anteil von 33 Prozent der grösste Markt. Doch während Asien kleiner ist, wächst die Region schnell. Heute stehen Japan, Thailand und Co bereits bei 24 Prozent Marktanteil. Bisher scheint Shaams Wette also aufzugehen. Omio hat monatlich 27 Millionen Nutzer, sammelte Risikokapital in der Höhe von insgesamt 296 Millionen US-$ ein und beschäftigt an fünf Standorten mehr als 300 Mitarbeiter. Die Mehrheit der „GoEurovians“, wie sich die Mitarbeiter vor der Umbenennung nannten, ist in Berlin tätig. Das Unternehmen hat aber auch Büros in Prag, Karlsruhe (beide für Entwicklungsleistungen) und Peking (Shaam: „Um asiatischen Touristen Tickets anzubieten“). Kürzlich wurde auch ein neues Büro in London eröffnet („London ist ein guter Ort, um talentierte Mitarbeiter zu finden“).
Aha-Moment während Europa-Reise
Shaam ist keiner jener Gründer, die regelmässig Keynotes halten, auf Events gehen und permanent die Werbetrommel rühren. Shaam will lieber Taten sprechen lassen, wie er sagt. Im Gespräch merkt man, dass der Harvard-Abgänger ein Zahlenmensch ist, das eigene Tun nicht romantisch verklärt und für seine Erfolge eigentlich zu bescheiden ist – was einer der Gründe sein mag, warum früher GoEuro, heute Omio die längste Zeit unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit flog. Dass das für ein B2C-Unternehmen nicht immer die beste Strategie ist, zeigt auch das jüngste Umdenken: Mit dem neuen Namen will Omio offensichtlich sichtbarer werden.
Naren Shaam
... stammt ursprünglich aus dem indischen Bangalore. Seine Mutter war Yogalehrerin, sein Vater arbeitete beim lokalen Elektrizitätswerk. Shaam ging mithilfe eines Stipendiums zum Studium in die USA, studierte an der Tennessee Tech University und an der Harvard Business School. Nachdem er in der Finanzbranche tätig war, zog er kurzerhand nach Berlin, um GoEuro zu gründen (das Unternehmen wurde später in Omio umbenannt). Die Idee kam ihm bei einem viermonatigen Trip durch Europa, in dessen Rahmen er 14 Länder durchquerte.
Nicht unähnlich einer Reise quer durch Europa nahm Shaam erst mal ein paar Umwege, um sein Ziel zu erreichen. Durch ein Stipendium konnte er zum Studium in die USA gehen und landete letztendlich an der Harvard Business School. Nach seinem Abschluss heuerte er in der Finanzwelt an – auch, um seinen Studienkredit abzubezahlen. Bevor er diesen Job jedoch antrat, reiste Shaam vier Monate lang durch 14 europäische Länder – und bekam währenddessen die Idee zu Omio. Denn während der globale Flugverkehr weitgehend standardisiert wurde, ist dies beim Transport zu Land nie passiert. Shaam: „Während meiner Reisen hatte ich zwei Aha-Momente. Erstens: Der öffentliche Verkehr in Europa verfügt über eine sensationelle Infrastruktur, ist aber sehr national organisiert und sehr fragmentiert. Zweitens: Der Nahverkehr am Kontinent wird nicht auf einer einzelnen Vertriebsplattform gebündelt angeboten.“ So kommt es, dass eine sechsstündige Zugfahrt von München nach Mailand zwei Grenzüberschreitungen mit sich bringt, was wiederum Ticketkäufe von mindestens drei nationalen Bahnanbietern inkludiert.
„Das ist so“, sagt Shaam, „als könnte man sich drei Folgen einer Serie auf Netflix ansehen, müsste die restlichen sechs aber woanders suchen.“ Während seines Europatrips 2010 schrieb Shaam also bereits einen fertigen Businessplan und kreierte erste Designs für die Website. Er merkte schnell, dass die Finanzbranche und er keine Liebesgeschichte waren, und beschloss, seine Idee umzusetzen. Die Wahl, in Berlin zu starten, traf er rational: Niedrige Lebenshaltungskosten und guter Zugang zu Talenten in europäischen Grossstädten gaben den Ausschlag; Stockholm war zu weit im Norden des Kontinents und zu teuer, also fiel die Wahl auf die deutsche Hauptstadt. Retrospektiv ein absurder Schritt: Shaam kannte niemanden, sprach kein Wort Deutsch und hatte keinen einzigen Kontakt, der ihm bei der Umsetzung seines Start-ups helfen konnte. Dennoch: 2013 packte er seine Koffer, zog nach Berlin und launchte das heutige Omio.
Omio in Zahlen
(Quelle: Omio)
Shaam fing an, Europas Bahngesellschaften aus dem Nichts anzurufen, um sie von seiner Idee zu überzeugen. Doch ohne Nutzer sahen die Unternehmen keine Vorteile – und ohne Partner konnte er keine Kunden anlocken. Er brauchte lange, um die Partner davon zu überzeugen, dass seine App ihnen potenziell neue Kunden liefern könnte. Nach einem Jahr schloss er endlich seine ersten grossen Verträge ab – die Deutsche Bahn und die britische UK Rail unterschrieben damals quasi gleichzeitig.
Vorbilder aus der Tech- und Sharing-Industrie
Für den Gründer ist aber nicht nur Netflix ein Vorbild in Sachen Produktdesign und Funktionalität. Im Interview spricht er häufig von Amazon, Uber und einem anderen europäischen Tech-Start-up, Spotify. Die Verbindung zum schwedischen Streaming-Unternehmen ist besonders eng: Dave Price, Vice President of Product bei Omio, war zuvor beim schwedischen Streaming-Riesen. Und die neueste Investorin und Vorstandsmitglied des Unternehmens, Kinneviks Haupteigentümerin Cristina Stenbeck, ist auch Boardmember bei Spotify (beide Unternehmen besitzen ein One-Tier-Board). Shaam: „Reisebuchungen haben selten etwas Magisches. Wir versuchen, diese Magie zu erzeugen.“ Dave Price teilt Shaams Vision: „Wenn ich verreise, denke ich, dass ich vom Flughafen Manchester starte. Tatsächlich geht meine Reise aber in meiner Heimatstadt Macclesfield los, die 24 Kilometer von Manchester entfernt ist. Dieses Chaos möchten wir für den User reduzieren.“
Die Investoren konnte man überzeugen: Nach dem Abschluss der 150-Millionen-US-$-Series-D-Finanzierungsrunde im November 2018 zählt das Unternehmen nun Goldman Sachs, Kleiner Perkins Caufield & Byers, das schwedische Haus Kinnevik, Lakestar aus Zürich und SAP-Gründer Hasso Plattner zu seinen Unterstützern. Die Bewertung von Omio wurde nicht veröffentlicht, wird jedoch auf rund eine Milliarde US-$ geschätzt – was das Start-up zu Berlins neuestem Einhorn machen würde. Die Konkurrenz ist zwar da, im Gegensatz zu Omio jedoch klein: Das australische Start-up Rome2rio hat bisher „nur“ 3,1 Millionen US-$ eingesammelt, das Berliner Unternehmen FromAtoB knapp zehn Millionen US-$, Wanderio aus Italien steht bei 2,3 Millionen US-$. Was die Frage aufwirft, warum Omio so unheimlich viel Kapital benötigt.
Da nationale Eisenbahn- und Busbetreiber über keinerlei Erfahrung mit der Verwendung der von ihnen erfassten Daten haben, erhalten die Softwareingenieure bei Omio in der Regel enorme Mengen an unstrukturierten Daten. Im Gegensatz zu Flughäfen, die mit ZRH, TXL oder VIE abgekürzt werden, gibt es für Bahnhöfe keine grenzüberschreitenden, standardisierten Codes. Daher müssen die Softwareingenieure von Omio zwei bis drei Wochen aufwenden, um alleine die statischen Daten zu bereinigen, wenn ein neuer Partner auf die Plattform kommt. Alleine die Deutsche Bahn bedient rund 10.000 Bahnhöfe mit der gleichen Anzahl an Zügen pro Tag. Um solche Mengen in Echtzeit und auf einen Klick zur Verfügung zu stellen, benötigt es viel Arbeit. Auch auf der Angebotsseite wird es nicht einfacher: 2018 hatte Omio bis zu 40 Millionen Suchanfragen pro Monat und bediente fünf Millionen Unique Destinations. Deshalb sind auch fast 200 der 300 Omio-Mitarbeiter Softwareingenieure.
Wachstum für den Preis der Profitabilität
Doch Shaam sieht die Komplexität als Vorteil an. Denn das würde eine Situation wie in der Ride-Hailing-Branche, wo viele unterschiedliche Unternehmen viel Geld einsammelten, verunmöglichen. Michael Gerra, Technologieanalyst bei Phocuswright, einem auf den globalen Reisemarkt fokussierten Forschungsunternehmen in den USA, stimmt diesem Urteil zu. „Die grösste Hürde für die erfolgreiche Planung von Door-to-door-Reisen ist die Komplexität der Integration einer grossen Anzahl fragmentierter, dynamischer Datenquellen.“ Vor allem das Problem der „Last Mile“ erschwere das Unterfangen massiv. „Das ist die echte Herausforderung.“ Zudem sei das Wachstum nicht einfach: „Zu den unternehmerischen Herausforderungen in diesem Feld zählt die Notwendigkeit lokaler Expertise und von Partnerschaften mit Transportanbietern vor Ort.“
Deutsche Bahn in Zahlen
(Quelle: Deutsche Bahn)
Auch wenn Omio 2018 seinen Umsatz gegenüber dem Vorjahr verdoppelte, ist die Profitabilität also nicht in Sicht. Das Unternehmen ist in keinem seiner 15 Märkte rentabel, vor allem aufgrund der hohen Investitionen. Die Eigenheiten der Branche bedeuten zudem, dass das Start-up nur schrittweise wachsen kann. Die Zeitspanne von der ersten Kontaktaufnahme mit einem grossen Partner (z. B. Trenitalia) bis zur vollständigen Integration kann bis zu 24 Monate betragen. Doch Shaam will weiter expandieren. Sein Traum? Omio in seiner Heimat Indien zu starten. Das dürfte jedoch noch dauern. „Indien ist – wie China – für sich alleine ein riesiges Ökosystem.“
Doch nicht nur die Wachstumsgeschwindigkeit könnte Omio zu schaffen machen. Die Tatsache, dass Google Maps die standortbasierte Suchbranche vollends dominiert, macht es durchaus denkbar, dass Google in Zukunft ebenfalls Tickets verkaufen könnte. Shaam lässt sich von diesem Szenario jedoch nicht beeindrucken: „Ist Google ein Mitbewerber? Die Frage stellt sich wahrscheinlich jedes Start-up. Doch der Markt ist so riesig – ich denke nicht, dass wir hier ,Winner takes all‘ spielen. Eher ,Winner takes most‘.“
Aktuell behält Shaam als grösster Aktionär die Kontrolle über sein Unternehmen. Bei Fragen nach Übernahmen oder einem Börsengang winkt er aber ab. „Der Grund, warum wir so viel Kapital eingesammelt haben, ist, dass wir unabhängig bleiben wollten. Solange wir die Kontrolle über das Unternehmen haben, bauen wir weiterhin an der weltweit grössten Reiseplattform.“
Beim Rundgang durch das Berliner Büro von Omio kommen wir an mehreren Mantras vorbei, die das Unternehmen begleiten sollen und die auf die Wände gemalt wurden. „making travel easy" ist eines, das nicht nur offensichtlich ist, sondern auch für jedes Start-up in der Reisebranche stehen könnte; „Diversity Makes Us Stronger“ oder „Simple Is The Fuel of Innovation“ sind Sprüche, die überhaupt bei jedem Tech-Start-up an der Wand stehen könnten. Jenes Prinzip, dass die Mission von Omio dann aber tatsächlich perfekt zusammenfasst – und Berlins nächstem Einhorn vermutlich sein grösstes Alleinstellungsmerkmal sichert –, ist eines, das uns erst gegen Ende unseres Besuchs an der Wand erwartet: „Follow The Data, See The World“.
Text: Klaus Fiala
Fotos: Peter Rigaud