Fleisch 2.0

Die globale Fleischindustrie ist 1,4 Billionen US-$ schwer. Nun bieten neu gestartete Laborfleischunternehmen eine Chance für Venture-Kapitalisten, diesen Markt zu erschliessen und dabei potenziell hohe Gewinne zu erzielen. Doch es gibt noch ein Problem: Niemand kauft ein Chicken Nugget um 50 US-$.

Am 5. August 2013 versammelten sich Medienvertreter in einem Fernsehstudio in London, um drei Personen beim Essen zuzusehen. Die Protagonisten des Tages waren die österreichische Lebensmittelforscherin Hanni Rützler, der amerikanische Ernährungsjournalist Josh Schonwald sowie der niederländische Pharmakologe Mark Post, die dazu eingeladen wurden, erstmals einen Burger aus gezüchtetem Fleisch zu kosten. Das Urteil: „Nah an Fleisch, aber nicht so saftig“, so Rützler. „Die Textur und das Gefühl beim Essen sind wie bei Fleisch“, meinte Schonwald. „Was mir aber fehlt, ist das Fett“, fügte er hinzu.

Mark Post, der für das Züchten des Fleischstücks verantwortlich war, erklärt: „Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass die derzeitige Fleischproduktion ihr Maximum erreicht hat und nicht ausreichen wird, um die wachsende Nachfrage zu decken.“ Daher habe er mit seinem Team an der Universität Maastricht drei Monate lang aus Rinderstammzellen 20.000 Muskel­fasern gezüchtet. Das Experiment schien ge­lungen zu sein – nur der Preis stimmte nicht: 330.000 US-$ kostete das Stück Laborfleisch, das von Rützler und Schonwald vor laufenden Kameras gekostet wurde.

Post gründete daraufhin sein Unternehmen Mosa Meat, es ist heute ein grosser Player der Zuchtfleischindustrie. Im Februar 2021 schloss das Unternehmen seine Series-B-Finanzierungsrunde mit 85 Millionen US-$ ab. Zu den Inves­toren gehört der niederländische Milliardär und Gründer von Just Eat Takeaway, Jitse Groen; 2021 wurde Schauspieler Leonardo DiCaprio zum Berater und Investor von Mosa Meat.

Im November 2021 schaffte es Posts Unternehmen, bereits einige Kilogramm Fleisch pro Monat zu produzieren. Bisher sei ihre Zusammenarbeit mit Aufsichtsbehörden positiv gelaufen, so die Antwort des Start-ups auf eine Forbes-Anfrage. „Vorbehaltlich der behördlichen Ge­nehmigungen hoffen wir, Mosa Meat bald auf den Markt zu bringen. Wie Sie wissen, ist in den letzten zwei Jahren viel in der Welt passiert, was zu Verzö­gerungen in der Arbeits- und Liefer­kette in fast allen Branchen geführt hat“, so Mosa Meat. Doch konkrete Details – wie etwa der Preis pro Kilogramm – sind noch unbekannt.

Die traditionelle Fleischproduktion stösst langsam an ihre Grenzen. Während 1960 weltweit erst 71 Millionen Tonnen Fleisch produziert wurden, stieg diese Zahl 1990 auf 180 Millionen Tonnen. Weitere 30 Jahre später, im Jahr 2020, lag die weltweite Fleischproduk­tion bei satten 340 Millionen Tonnen – in den ­letzten 60 Jahren ist die Fleischproduktion also fast um das Fünffache gestiegen.

Somit wird heute viel mehr Fleisch ge­gessen, als es Gesundheitsbehörden empfehlen. Während die Deutsche Gesellschaft für Ernährung rund 22 Kilogramm Fleisch pro Jahr als empfohlenen Richtwert angibt, liegt der tatsächliche Konsum in Deutschland bei 60 Kilogramm pro Kopf – und ist damit nicht einmal an der Spitze: Australier verzehren im Durchschnitt das Doppelte, in den USA liegt der Wert bei 118 Kilo, gefolgt von Argentinien und Brasilien, die beide bei circa 100 Kilo liegen. Am wenigsten Fleisch wird in Indien konsumiert (nur 3,7 Kilo pro Kopf). Zu den Folgen des hohen Fleischkonsums gehören unter anderem ein erhöhtes Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, sowie Übergewicht und Herz-Kreislauf-Probleme.

Dieser massive Anstieg ist vor allem wegen der Industrialisierung der Produktion möglich. Vor 100 Jahren hat die Hälfte der amerikanischen Produzenten jährlich Fleisch um weniger als 10.000 US-$ verkauft. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dann die art­­gerechte Tierhaltung – bei der die na­türlichen Lebensbedingungen der Tiere berücksichtigt werden – durch die sogenannte Intensivtierhaltung ersetzt.

Wenn man heutzutage also ein Stück Fleisch kauft, kann man davon ausgehen, dass das Tier sein ganzes Leben lang kein Sonnenlicht gesehen hat. Die US-Landwirtschaftsbehörde nennt solche Betriebe Concentrated Animal Feeding Operations, kurz CAFO. Hier werden über 1.000 „Tiereinheiten“ mindestens 45 Tage im Jahr eingesperrt. Durch die Konzentration des Viehbestands auf einer möglichst kleinen Fläche und durch die Verwendung von eiweissreichem ­Getreide als Futter konnte die industrielle Land­wirtschaft mit der wachsenden Nachfrage mithalten.

So brauchte es einem Bericht der US-Landwirtschaftsbehörde zufolge 1966 noch eine Million Betriebe, um 57 Millionen Schweine zu halten – im Jahr 2001 brauchte man nur noch 80.000 Betriebe, also 0,14% der Menge aus Mitte der 60er-Jahre, um die gleiche Menge an Fleisch zu produzieren.

Die industrialisierte Tierhaltung zieht bekanntlich umweltschädliche Konsequenzen nach sich. Dem Deutschen Umweltbundesamt zufolge ist die Tierhaltung für 15 % der welt­weiten Treibhausgase verantwortlich; davon ist ein Drittel der Emissionen auf den Verdauungs­vorgang von Wiederkäuern zurückzuführen. Allein die deutsche Landwirtschaft habe 2017 (so der Bericht des Bundesamtes aus dem Jahr 2020) 66 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente ausge­stossen.

Auch die Landnutzung wird von der Tierhaltung stark eingeschränkt: Rund ein Drittel der weltweiten Getreideernte wird als Futter für Viehbestand genutzt. Dabei sind 3,2 Kilogramm Getreide notwendig, um ein 500-Gramm-Rindersteak zu erzeugen. Bei Schweinefleisch fällt die Bilanz etwas besser aus: Für dieselbe Menge Fleisch braucht ein Schwein 1,4 Kilogramm Getreide. Mit nur 900 Gramm Getreide für 500 Gramm essbares Fleisch ist Geflügel die ressourcenschonendste Option.

Es braucht also dringend Alternativen – kein Wunder, dass diese boomen: Schon 2001 startete die Nasa Experimente rund um das Züchten von Laborfleisch mit dem Ziel, Astronauten während einer möglichen bemannten Mission zum Mars mit ausreichend und vielfältigen Nahrungs­mitteln versorgen zu können. Beim Nasa-Projekt legten die Forscher kleine Fleischstücke in eine Nährlösung mit fötalem Rinder­serum, einer Flüssigkeit, die aus dem Blut ungeborener Kälber gewonnen wird. Nach ein paar Wochen in der Lösung wuchs das Frischfleisch um bis zu 16 Prozent. 18 Jahre nach dem Start des Projekts schaffte es das israelische Privatunternehmen Aleph Farms, ein Stück Rinderfilet auf der International Space Station herzustellen.

Aber zurück zur Erde. Mit der PR-Ins­zenierung um seinen Laborfleischburger im Jahr 2013 hatte Pharma­kologe Mark Post zwar für mediale Aufmerksamkeit gesorgt, für Akzeptanz in der Gesellschaft aber noch nicht. Einer Um­frage des Umweltbundesamtes aus dem Jahr 2019 zufolge hatten 60 % der Befragten noch nie von „In-vitro-Fleisch“ gehört; 30 % gaben an, dass Laborfleisch für ihre Ernährung gar nicht infrage komme. Weitere 30 % waren der Idee gegenüber skeptisch eingestellt.

 

Trotz mangelnder Bereitschaft der Kon­sumenten schien der Markt von der Idee begeistert zu sein. Die US-amerikanische Non-Profit-Organisation Good Food Institute schätzt, dass Start-ups, die kultivierte Fleisch- und Molkereiprodukte herstellen, im Jahr 2020 Investitionen in der Höhe von 360 Millionen US-$ eingesammelt haben – ein Anstieg von mehr als 600 % im Vergleich zum Vorjahr.

Es gibt aber auch hier ein Problem: Seit Jahren verpassen Laborfleisch-Start-ups ihre eigenen Produktlaunch-Deadlines. US-Ernährungsjournalist Tom Philpott sah sich im August 2021 fast 190 Launch-Versprechen der Laborfleischindustrie an und merkte: Die Start-ups sind viel besser darin, Versprechungen zu machen, als marktfähige Produkte herzustellen.

Der US-Analytics-Firma Lux Research zufolge bemühen sich rund 80 Unternehmen um die Herstellung marktfähiger Zuchtfleisch­produkte, derzeit hat es aber erst ein Unternehmen geschafft, die Zulassung für den Verkauf von kultiviertem Fleisch zu erhalten – das Silicon-Valley-Start-up Eat Just. Im Dezember 2020 wurden seine Chicken Nuggets aus gezüchtetem Fleisch in Singapur für den Markt zugelassen. Schon 2016 wurde Eat Just mit über einer Milliarde US-$ bewertet; 2019 schaffte es das Start-up, die Kosten für ein einzelnes Nugget von 1.000 auf 50 US-$ zu senken – was immer noch kein wettbewerbsfähiger Preis ist. Dementsprechend bleiben dem Start-up auch die Profite aus.

Derzeit koste es im Vergleich zu traditionellem Fleisch 100- bis 10.000-mal mehr, Laborfleisch zu produzieren, so Pelle Sinke und Ellen Schep vom niederländischen Forschungsinstitut CE Delft, die zu dem Thema einen umfassenden Bericht verfassten. Die hohen Kosten liegen den beiden zufolge an den sehr teuren Zellkultur­medien, mit Nährstoffen gesättigten Flüssig­keiten, die das Zellwachstum antreiben. „Ins­­besondere die Wachstumsfaktoren und andere funktionelle Proteine, die in diesen Medien enthalten sind, kosten viel“, so Sinke. Noch dazu werden hohe Investitionen in Produktions­­anlagen benötigt, vor allem für die Bioreaktoren.

Dabei identifizieren Sinke und Schep zwei Möglichkeiten, die Kosten zu senken: „Was das Zellkulturmedium angeht, könnte das Skalieren der Produktionstechnologie zu Grössenvorteilen führen, und damit zu Kostensenkung“, erklärt Sinke. Der zweite Weg liege in den Händen der Investoren. Hier verweist Sinke auf die sozialen und ökologischen Vorteile von gezüchtetem Fleisch: „Die Investitionskosten können gesenkt werden, wenn Investoren bereit sind, entspann­tere Amortisationskriterien zu akzeptieren.“

Denn Laborfleisch habe das Potenzial, nachhaltiger zu sein als konventionelles Fleisch. „Fleisch zu züchten ist die effizientere Methode, Pflanzen in Protein umzuwandeln“, sagt Schep. Allerdings benötigt die Fleischzucht ziemlich viel Energie. Für eine geringe CO2-Bilanz ist es laut den Forschern entscheidend, bei der Produktion ausschliesslich auf erneuerbare Energiequellen zu setzen. Dann hätte Laborfleisch einen geringeren Kohlenstoff-Fussabdruck als alle herkömmlichen Fleischsorten.

Neben den Kosten stellt die regulatorische Zulassung eine potenzielle Hürde dar. Die US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) ist erst dabei, einen regulatorischen Rahmen für die Laborfleisch-Branche zu entwickeln. Im Oktober 2020 ersuchten sie Industrieplayer um Input, wie Laborfleisch denn zu kennzeichnen sei – eine offizielle Entscheidung lässt noch auf sich warten.

Sinke und Schep schätzen, dass man bis 2030 die Kosten weit genug senken könnte, um mit traditionellem Fleisch konkurrieren zu können. „Wir haben auch Synergien entdeckt – die monetären Kosten und Umweltauswirkungen können zugleich gesenkt werden“, so die Forscher. Erneuerbare Energien sind in vielen Fällen billiger als fossile Energieträger; somit könnte man durch deren Einsatz gleichzeitig Kosten senken und die Umwelt schonen.

2013 sagte Lebensmittelforscherin Hanni Rützler über das erste Stück Laborfleisch: „Nah an Fleisch, aber nicht so saftig.“ Heute kann man diese Einschätzung auf die ganze Industrie ausweiten: Nah an der Viabilität, aber noch nicht ganz so weit, wie es notwendig und wünschenswert wäre.

Text: Sophie Spiegelberger
Illustrationen: Guillem Casasús

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 1–22 zum Thema „Ressourcen“.

Sophie Spiegelberger,
Redakteurin & Head of Digital

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