FINANCE’S FINAL FRONTIER

Die Bereitstellung grundlegender Mittel für Kredite und die Hilfe für Milliarden sogenannter „Underbanked Individuals“ verändert nicht nur deren Leben, sondern legt in diesem Jahrhundert auch den Grundstein für neuen Reichtum.

Vor zwei Jahren lebte ­Amylene Dingle mit ihrem Mann und ihrer siebenjährigen Tochter in Payatas, einem verarmten Stadtteil Manilas mit der grössten offenen Mülldeponie der Philippinen. Ihr Mann arbeitete als Securitykraft in einem Regierungsgebäude und verdiente 4.000 Pesos die Woche, was etwa 80 US-$ entspricht. Dingle ­hatte schon immer ein Unternehmen gründen wollen, aber sie war arbeitslos, hatte keine Ersparnisse und konnte keine Kreditkarte, geschweige denn einen Kredit, erhalten.

Ihre finanzielle Situation wendete sich jedoch schlagartig zum Besseren, als sie auf eine Facebook-Werbung von Tala stiess. Das Start-up aus Santa Monica vergibt Kredite mit kleinen Beträgen über eine Smartphone-App. Nachdem Dingle der App Zugriff auf ihr Smartphone gewährte – etwas, das für Tala notwendig ist, um das Risiko eines ­Kreditnehmers einzuschätzen –, erhielt sie ein 30-tägiges Darlehen in der Höhe von 20 US-$. Sie bezahlte 15 % Zinsen und kaufte sich mit ihrem Kredit Aufschnitt, Hamburger und Hotdogs, die sie dann um 40 % teurer von Tür zu Tür verkaufte. Am Ende des Monats stieg sie nach Rückzahlung des Kredits und einer kleinen Bearbeitungsgebühr mit vier US-$ Gewinn aus.

Heute feiert Dingle mit ihrem kleinen Food-Business Erfolge: Wöchentlich erreicht sie eine Gewinnsumme von rund 70 US-$. So hat die Familie, die dank Dingles Einkommen in das saubere, sichere Viertel Batasan Hills ziehen ­konnte, bei­nahe doppelt so viel Geld zur Verfügung wie vor Tala.

Mikrokredite via Smartphone für „Unbanked“ und „Underbanked“

Auch Tala geht es gut. Das Unternehmen wurde 2011 von Shivani Siroya, einer 37-jährigen ehemaligen Wall-Street-Analytikerin, gegründet und hat seitdem über 200 Millionen US-$ von den wichtigsten US-Investoren erhalten – unter anderem vom Revolution Growth Fund des Milliardärs Steve Case. Das Geschäft boomt: 2019 nahm Siroyas Unternehmen geschätzte 100 Millionen US-$ ein. Somit liegt dessen Wert bei fast 800 Millionen US-$. ­Unternehmen wie Tala bieten den 1,7 ­Milliarden Menschen, die nicht einmal ein Bankkonto haben, eine neue Möglichkeit, Kredite, Sparkonten und Versicherungen zu besitzen.

1999 gründete Steve Streit
... mit Green Dot ein Unternehmen, das Lösungen für Onlinebanking anbietet. Shivani Siroya gründete 2011 das Finanzdienstleistungsunternehmen Tala. Beide Unternehmer unterstützen mit ihren Angeboten jene, die nur beschränkten Zugang zu Finanzdienstleistungen haben.

Dies ist eine der grössten Herausforderungen, aber auch eine der grössten Chancen dieses Jahrhunderts: Der Zugriff auf das Finanz­system ermöglicht den Menschen den Kauf eines Autos oder ­eines ­Hauses. Für Arztbesuche oder ­medizinische Notfälle müssen sie nicht mehr auf Kredit­haie zurückgreifen, sie sind glücklicher und produktiver – und mit dieser Produktivität können sie dazu beitragen, ihre Nationen aus der Armut zu befreien. Diejenigen zu unterstützen, die kein Bankkonto haben, wird eines der grössten Vermögen von morgen generieren.

Es ist sowohl der moralische Imperativ des Kapitalismus als auch der Weg zu einem der grössten noch unbekannten Märkte. Während diejenigen ohne Bankkonto alles in bar bezahlen, gibt es eine noch grössere Gruppe: Die Rede ist von vier Milliarden sogenannten „Underbanked“, also jenen, die zwar ein ­Bankkonto besitzen, aber im Schuldenberg versinken und zusehen müssen, wie sie über die Runden kommen. ­Traditionelle Banken könnten ihre jährlichen Einnahmen um mindestens 380 Milliarden US-$ erhöhen, wenn sie all jene ohne Bankkonto zu Kunden machen würden, so ein Accenture-Bericht aus dem Jahre 2015.

Die möglichen ­Konsequenzen sind bahnbrechend. Das BIP der Schwellenländer würde bis 2025 um 3,7 Milliarden US-$ (+ 6 %) steigen, wenn sie eine einzige Innovation, etwa die Umstellung von Bargeld auf Geld, das digital auf Mobiltelefonen gespeichert wird, einführen würden, schätzte McKinsey 2016. ­Diego Zuluaga, ein Analytiker des Cato ­Institute’s Center for Monetary & ­Financial Alternatives, hat sich näher mit den möglichen Folgen einer vollständigen finanziellen Integration ausein­andergesetzt: „Wenn wir den Leuten aus Entwicklungsländern, die als ‚unbanked‘ und ‚underbanked‘ gelten, den gleichen Zugang zu Krediten und Investoren gewähren würden wie in reichen Ländern, könnten in den nächsten 50 Jahren auf einfachem Wege zusätzliche 100 Milliarden US-$ an Finanzanlagen geschaffen werden“, so Zuluaga.

Tala-Gründerin Siroya, deren Eltern – beide gut ausgebildete Arbeitskräfte – aus Indien in die USA kamen, wuchs in Brooklyns Viertel Park Slope auf und besuchte die United Nations International School in Manhattan. Sie absolvierte ihre Abschlüsse an den Unis Wesleyan und Columbia und arbeitete als Investmentanalytikerin bei Credit Suisse und UBS. Ab 2006 war sie bei der UNO für die Bewertung der Auswirkungen von Mikrokrediten in den Regionen Subsahara und Westafrika zuständig und verfolgte, in welcher Art und Weise Frauen Kredite für ­einige Hundert Dollar beantragten: Sie war geschockt, dass die meisten Anträge abgelehnt wurden. „Die Banker sagten manchmal sogar, dass sie gewisse Segmente niemals bedienen würden“, sagt Siroya. Doch wo Banken Risiken sahen, sah sie neue Möglichkeiten: Während ihrer Arbeit bei der UNO interviewte sie 3.500 Menschen und fand heraus, wie sie verdienten, ausgaben, ausliehen und sparten. Diese Daten brachten Siroya auf die Idee, Tala zu gründen: Eine Kreditnehmerin kann ihre Kreditwürdigkeit durch ihre täglichen und wöchentlichen Tätigkeiten, die auf ihrem Smartphone gespeichert werden, beweisen.

Shivani Siroya, Tala, Forbes, Finances, 002
Amylene Dingle erhöhte durch die Nutzung von Tala das Familieneinkommen auf fast das Doppelte.

Eine Kreditnehmerin, die beispielsweise ihre Stromrechnungen pünktlich bezahlt, gilt als zuverlässiger als eine, die dies nicht tut. „Wir nutzen die digitalen Spuren unserer Kundinnen“, erklärt Siroya. Das Konzept schlägt an: Tala vergrössert sich laufend. Das Unternehmen hat bereits vier Millionen Kunden in fünf Ländern, die insgesamt bereits mehr als eine Milliarde US-$ ausgeliehen haben. In Tansania, Mexiko und Indien erlebt Tala momentan grosses Wachstum, in Kenia und auf den Philippinen schreibt das Unternehmen bereits schwarze Zahlen.

Dixie Moore bemühte sich ­jeden Monat aufs Neue, mit ihrem Gehalt über die Runden zu kommen. Doch als alleinerziehende zweifache Mutter reichte der Stundenlohn von 12,25 US-$, den sie als Assistant Manager eines Restaurants verdiente, einfach nicht aus. 2011 bezahlte Moore im Monat 30 US-$ für einen Wells-Fargo-Scheckaccount. Als sie diesen jedoch um 1.200 US-$ überzog, wurde der Vertrag gekündigt. Danach musste sie, um ihre Gehaltsschecks einlösen zu können, bis zu sechs US-$ pro Transaktion bezahlen. „Ich steckte fest. Es gab einfach keine gute Lösung“, sagt sie. Erst als eine Freundin sie auf MoneyCard, ein Produkt von Green Dot und Walmart, aufmerksam machte, wendete sich die Situation zum Besseren. Green Dot ist der grösste Provider von Prepaid-Karten in den USA – nun ist auch Moore dort Kundin. Ihr ­Arbeitgeber überweist ihre Gehaltsschecks direkt auf die Karte, und sie verwendet sie, um für sämtliche Einkäufe und Dienstleistungen zu bezahlen, von Lebensmitteln bis zu Zahnarzt­besuchen. Bis vor zwei Jahren ­gehörte Moores Haushalt noch zu 7 % aller Haushalte bzw. 14 Millionen Erwachsenen in den USA, die ihr Leben ausschliesslich mit Bargeld finanzieren. Jetzt nutzt sie Green Dot wie viele andere als ­finanzielle Rettungsleine. Das Unternehmen, das 1999 von Steve Streit, einem ehemaligen DJ, gegründet wurde, hatte seinen ursprünglichen Fokus auf Teenagern, die ihre Einkäufe online tätigen wollten. Doch im Jahr 2001 erkannte Green Dot, dass der wahre Erfolg in der Unterstützung jener lag, die aufgrund von Geldmangel kein herkömmliches Bankkonto besassen.

Es ist, als würde man mit Bargeld zahlen – nur eben auf einer Karte. Da die Karte nicht überzogen werden kann, laufen Benutzer nicht Gefahr, hohe Zinsen zahlen zu müssen, und auch Käufe im Internet werden durch die Karte ermöglicht. Streit meint, dass beinahe 40 % von Green Dots fünf Millionen Kunden vor dem Vertragsabschluss mit seinem Unternehmen kein Bankkonto besassen. 2007 schloss der Gründer einen Deal mit Walmart, der für die damals 130 Millionen Kunden der Supermarktkette von grossem Vorteil war: eine Prepaid-Karte für nur drei Dollar pro Monat. Somit war diese Karte die billigste auf dem Markt.

Hindernisse in der westlichen Finanzinfrastruktur Schritt für Schritt überwinden

Harvard-Business-School-Professor Michael Chu sagt, dass die Unterstützung jener, die kein Bankkonto besitzen, eine riesige Chance darstellt. Paradoxerweise bereiten jedoch ausgerechnet der reichsten Nation der Welt Innovationen in der Finanzintegration einige Hindernisse. Zusammengeflickte Staatsgesetze, die Kreditnehmer vor räuberischen Kreditgebern schützen sollen, und Bundesgesetze, die Geldwäsche verhindern sollen, stellen ein Labyrinth von Bürokratie dar, durch das Start-ups erst navigieren müssen. Ein weiteres Problem: Die Technologie, die Gelder zwischen US-amerikanischen Finanzinstituten transferiert, ist veraltet, langsam und teuer. Bei einem Blick auf das grosse Ganze wird aber klar, dass das alles nur kleine Hindernisse sind. Die Fed (US-amerikanisches Zentralbankensystem) will bis 2024 ein neues, verbessertes Transfer­system verwirklichen. Entrepreneure werden sich an den büro­kratischen Richtlinien orientieren oder durch Innovationen neue Wege finden. Schliesslich gibt es Milliarden von Dollar zu verdienen – und unzählige Leben zu verbessern.

Text: Jeff Kauflin & Susan Adams / Forbes US
Foto: Jamel Toppin / Forbes US

Der Artikel ist in unserer November-Ausgabe 2019 „Next“ erschienen.

Forbes Editors

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