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Als einer der einflussreichsten Verhaltensökonomen der Welt färbte Ernst Fehr wohl stark auf seine Geschwister Corinna und Gerhard ab. Denn auch sie widmen sich der relativ jungen Disziplin, die Wirtschaftswissenschaften und Psychologie vereint und menschliche (Wirtschafts-)Entscheidungen untersucht.
Es ist eine klingende Liste an Namen: die Nobelpreisträger Daniel Kahneman, Amos Tversky, George Akerlof, Vernon Smith und Reinhard Selten sowie die Topwissenschaftler Dan Ariely, Richard Thaler oder Colin Camerer. Zu ihr gehört zudem der Österreicher Ernst Fehr, der an der Universität Zürich arbeitet und lehrt. Sie alle haben gemein, dass sie ihre Erfolge in einer noch recht jungen Disziplin der Ökonomie feierten: der Verhaltensökonomie. Kurz gesagt vereint die Verhaltensökonomie Psychologie, Soziologie und Ökonomie und ergründet die Entscheidungen von Menschen im ökonomischen Kontext. Und bewies dabei, dass das langjährige Modell des „Homo oeconomicus“, wonach der Mensch stets rational handelt und seinen Nutzen maximiert, inkonsistent ist. Viel eher unterliegen wir zahlreichen Irrationalitäten, die vor allem unterbewusst unsere Handlungen mitsteuern. Als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Wissenschaftler prägte Fehr das Feld stark – und zog auch seine Geschwister Corinna und Gerhard in den Bann der Wissenschaft. Während der Älteste, Erich, jedoch konsequent seiner Grundlagenforschung nachgeht, wollen die beiden Jüngeren die Erkenntnisse in die Praxis umsetzen.
Die Verhaltensökonomie zeigt uns, dass der Mensch oftmals irrational entscheidet. Auch Sie, Herr Fehr, haben zu dieser Einsicht beigetragen und damit das Modell des „Homo oeconomicus“ in gewisser Weise abgelöst. Nun sind auch Ihre beiden Geschwister in der Verhaltensökonomie gelandet. Inwiefern war dieser Weg für Sie denn überhaupt eine rationale Entscheidung?
EF: Ich bin eigentlich über den Arbeitsmarkt zur Verhaltensökonomie gekommen. Ich habe damals einen Aufsatz geschrieben, „Does Fairness prevent Market Clearing?“. Am Beginn stand dabei die Einsicht, dass die traditionelle Arbeitsmarktökonomie unfreiwillige Arbeitslosigkeit nicht erklären kann. Da ist mir eine Idee gekommen, die natürlich auch in der Literatur schon vorhanden war: dass Fairnessvorstellungen der Arbeitnehmer verhindern, dass Reallöhne so angepasst werden können, dass Beschäftigungslosigkeit vermieden wird. Diese Idee der Fairnessvorstellungen von Arbeitnehmern war inkonsistent mit der klassischen Arbeitsmarktökonomie, die von einem Wettbewerbsmodell ausgeht, wo Löhne nach unten und oben flexibel sind. Bei mir war das also keine autonome Entscheidung, sondern sie hat sich aus dem Versuch der Lösung eines Problems ergeben – also ein ungelöstes Problem besser zu verstehen. Man ist in der Wissenschaft stets einem kritischen Diskurs ausgesetzt, der dazu dient, Einseitigkeiten und kognitive Verzerrungen aufzubrechen. Das ist gerade die Funktion einer kritischen Diskussion. Im realen Leben, wenn ein Individuum Entscheidungen trifft – wie es spart, wie es konsumiert –, fehlt oft diese kritische Instanz, die korrigierend eingreift. Das ist ja gerade die Funktion von Organisationen und Institutionen, diese kognitiven Verzerrungen des Individuums zu korrigieren. Neben der Wissenschaft können auch Organisationsroutinen in Unternehmen verhindern, dass man solchen „Biases“ anheimfällt.
Wenn ein Individuum Entscheidungen trifft – etwa: sparen oder konsumieren –, fehlt eine kritische Instanz, die korrigierend eingreift.
GF: Ich begann Anfang der 90er-Jahre, zu studieren. Verhaltensökonomie war damals kein Thema. Ernst war zu dieser Zeit Assistenzprofessor an der TU Wien und hat dort Experimente gemacht. Er hat damals jemanden gebraucht, der für die Experimente Studenten akquiriert und dann bei den Versuchen selbst aushilft. Ich fand Ablauf und Resultate extrem spannend. Das hat völlig divergiert zu dem, was wir im Studium gelernt haben. Ich habe auch während meiner Karriere immer viel von Ernst gelesen und dann ein Interesse aufgebaut, die Ergebnisse auch in der Praxis anzuwenden. Ich habe also FehrAdvice & Partners gegründet und bin diesen – unter Anführungszeichen – „Herkulesweg“ der Unternehmensgründung gegangen. Denn die Transformation von Wissenschaft in die Praxis ist etwas sehr Anstrengendes, für mich aber sehr Befriedigendes. Wenn ich ein Paper lese, begeistert es mich, zu sehen, in welchem Kontext man die wissenschaftlichen Erkenntnisse anwenden kann, wie man daraus ein beratungsfähiges Format entwickeln kann.
CF: Ich hätte nie Ökonomie studiert, wenn es den Ernst nicht gegeben hätte. Ich habe dann aber einen anderen Pfad eingeschlagen und bin in den systemtheoretischen Bereich in Richtung Coaching und Mediation gegangen. Vor allem in Diskussionen mit Gerhard merkte ich dann, dass ich meist aus Erfahrung und nicht evidenzbasiert argumentiere. Und das war dann mein Zugang zur Verhaltensökonomie: Ich wollte das, was ich tue, fundierter argumentieren können. Mittlerweile fliessen diese Erkenntnisse in meine Coachings mit ein.
GF: Das ist meine Funktion: ihr auf die Nerven zu gehen. (beide lachen)
Wie sehr sind sich Menschen – vor allem Akteure in der Praxis – der Erkenntnisse bewusst, mit denen Sie sie konfrontieren?
GF: Jeder gute Unternehmer ist unbewusst ein erfolgreicher Verhaltensökonom. Denn er kann Konsumentenverhalten besser einschätzen. Solche Unternehmer sind also in ihren Entscheidungen besser als „der Rest“. Das umfasst viele Dinge, die die Verhaltensökonomie untersucht. Im Schnitt wissen erfolgreiche Unternehmer etwa besser, wie man Mitarbeiter fair behandeln muss – dass diese Fairnesspräferenzen aber nicht unendlich befriedigt werden können. Erfolgreiche Unternehmer denken sich schnell, dass diese Erkenntnisse ein alter Hund sind, da sie sie jeden Tag praktisch anwenden. Der Mehrwert in der Praxis ist aber, dass durch die Verhaltensökonomie „Human-Centered Thinking“ systematisch und evidenzbasiert in Unternehmen umgesetzt wird. Ein Beispiel ist die Medienbranche, wo sich langsam Weisheiten durchzusetzen beginnen. Denn wie Albert Einstein schon sagte: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder dasselbe zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Die Verhaltensökonomie bietet daher eine fundierte Basis, Dinge anders zu tun, was Unternehmen und Managern die Möglichkeit gibt, gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden neue Wege zu gehen. Die Bezahlschranke ist ein klassisches Beispiel. Jeder, der eine Bezahlschranke einführt und nicht die globale Reichweite einer „New York Times“ besitzt, wird scheitern. Wir sehen, dass 99 Prozent der Bezahlschranken nichts anderes tun, als Leser zu verschrecken. Wir in der Verhaltensökonomie sagen, dass muss man anders machen.
Was wäre der richtige Weg?
GF: Google, mit seiner global agierenden Auktionsplattform für Google-Ads ist Hauptverursacher des Unheils für die Medien, weil dadurch ein Grossteil des Werbeumsatzes abgezogen wird. Google hat aber auch die „Digital News Initiative“ gegründet, um Medienhäuser zu bewegen, innovative digitale Medienkonzepte zu entwickeln. Erfolgsversprechende Projekte werden mit erheblichem finanziellem Aufwand gesponsert. Wir haben im Rahmen dessen ein Konzept vorgestellt, das es Newsportalen ermöglichen sollte, ein höheres Engagement seiner Leser zu erzielen. Im Prinzip müssen sie drei Elemente beachten: Das digitale Budget für den Konsum von Nachrichten auf digitalen Plattformen ist im Schnitt sehr niedrig. Es gibt da einfach nichts, wir nennen es das „mentale Budget“. Zweitens wissen wir, dass der Preis von null nichts Gutes verheisst – Menschen verhalten sich bei einem Preis von null extrem irrational. Man kann bei einem Preis von null nicht einfach eine Preiserhöhung durchführen, ohne einen Grossteil der Leser zu verlieren. Newsportale müssen aber nicht Massnahmen ergreifen, um Leser zu verlieren, sondern mehr „Engagement“ bei ihren existierenden Lesern schaffen; die Leute also zum „Mehr-Lesen“ bringen. Das dritte Element ist möglicherweise für die Kultur von Medienverlagen das wichtigste und wird vom durchschnittlichen Journalist verstanden: Der durchschnittlicher Leser kann die Qualität eines Artikels nicht – oder nur grob – einschätzen. Qualität ist im Journalismus ein nicht klar bewertbares Mass. Die Erhöhung der Qualität führt also nicht zwangsläufig zur Erhöhung der Zahlungsbereitschaft. Andere Massnahmen müssen entwickelt werden – und wir gehen das mit einem Medienhaus gemeinsam an.
Trifft man auf Widerstand, wenn man Menschen, die von einer Bezahlschranke überzeugt sind – oder ihre Blind Spots nicht kennen –, darauf hinweist?
GF: Da treffen Sie einen wunden Punkt, denn die Antwort lautet „Ja“. Daher muss man einen Weg finden, wie die Leute sich das selbst sagen – und Sie selbst nicht Überbringer der schlechten Nachricht sind. Das ist auch verhaltensökonomisch begründet: Es wird der Erbringer der unfairen Nachricht bestraft, nicht der Entscheider. Man muss also passende Tools entwickeln, die Verhaltensökonomie hat aus der Psychologie etwa das Experiment entlehnt. Sie ist ja sowieso eine kleptomanische Wissenschaft und bedient sich in den Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Spieltheorie, in einem völlig interdisziplinären Ansatz.
CF: Das ist aber auch die Kraft der Verhaltensökonomie – sie orientiert sich an Problemen, nicht an Disziplinen.
Frage an Ernst Fehr: Stimmen Sie der Beschreibung „kleptomanische Wissenschaft“ zu?
EF: Ich glaube, die Verhaltensökonomie ist pragmatisch. Sie sieht sich an, was die Psychologen oder die Soziologen uns zu sagen haben. Meist fliessen diese Erkenntnisse oder Instrumente, die in anderen Disziplinen existieren, nicht unverändert in die Ökonomie ein. Damit diese eine Rolle spielen, gibt es einen „Added Value“, indem wir zeigen, dass sie im ökonomischen Kontext eine Rolle spielen. Zudem arbeitet etwa die Psychologie zum Grossteil ja nicht mit formalen Theorien, während Formalisierung und Modellierung in der Ökonomie das tägliche Brot sind.
Gibt es denn in der Qualität unserer Entscheidungen hinsichtlich Irrationalität einen Unterschied, wenn wir uns ein Paar Schuhe kaufen oder unseren Job kündigen?
GF: Der Schuhkauf funktioniert relativ ungeplant. Wir gehen an einem Shop vorbei, probieren den Schuh und kaufen ihn. Da kommt es dann auf Passform, Verkaufsservice etc. an. Und vor allem auch auf unser Budget, denn Konsum hat mit dem Budget zu tun.
EF: Ich funktioniere beim Schuhkauf aber anders. Ich kaufe drei Jahre lang keine Schuhe und dann fünf Paar.
GF: Das gibt es natürlich auch. Etwa zehn Prozent sind Plankäufer, 90 Prozent Spontankäufer. Den Job zu kündigen, ist jedoch ein völlig anderer Kontext mit einer ganz anderen Relevanz. Das passiert viel bewusster, doch auch hier gibt es grosse Irrationalitäten. Etwa, wenn sich jemand unfair behandelt fühlt.
Wird man bei all diesen Beweisen für Irrationalität bei seinen eigenen Entscheidungen nicht paranoid?
CF: Für mich hat diese Erkenntnis viel Entspannung gebracht. Wir Menschen sind nun mal irrational, doch was tue ich damit? Da habe ich gewisse Handlungsanleitungen bekommen.
GF: Wenn wir Manager fragen, ob ihre Entscheidungen eher rational sind, dann sehen wir, dass fast 90 Prozent denken, dass sie sehr rational entscheiden. Den Anspruch, gute Entscheidungen zu treffen, haben wir als Menschen. Doch die Gesellschaft hat gewisse rationale Muster, die man in Unternehmen und in der Politik beheben kann.
EF: Die Manager glauben gleichzeitig aber auch, dass ihre Konsumenten völlig irrational sind. Sie glauben also, dass sie selbst hoch rational entscheiden, die Konsumenten und die Mitarbeiter aber irrational.
Ist dieses Denken eine Eigenheit von Topmanagern?
GF: Das ist ein Muster, das sich durchzieht – bei Topmanagern aber ausgeprägter ist.
EF: Topmanager wurden für ihre analytischen Fähigkeiten selektiert. Ich persönlich glaube also auch, dass unter ihnen ein höherer Grad an Rationalität existiert, sonst wären sie nicht erfolgreich. Das beeinflusst dann natürlich das Selbstbild. Wir wissen aber natürlich, dass sehr subtile, unbewusste Entscheidungsmechanismen auch in diesem Bereich eine Rolle spielen. Ein Beispiel ist das, was in der Literatur „Escalation of Commitment“ genannt wird: Die Swiss Air ist an einer Geschäftsstrategie zugrunde gegangen, die so lange weiterverfolgt wurde, bis sie scheiterte. Man hat zugekauft und zugekauft – also dem schlechten Geld gutes Geld nachgeworfen. Das Unternehmen konnte sich nicht eingestehen, dass hier eine schlechte Strategie verfolgt wurde, und eskalierte dieses Commitment immer mehr. Solche Prozesse wurden in der Geschäftswelt vielfach nachgewiesen und haben gerade in dieser schnelllebigen Welt oft den Untergang von Unternehmen herbeigeführt; Nokia ist auch so ein Beispiel. Es gibt eben auch im Management Fehlentscheidungen, die sich vermeiden liessen.
GF: Um das Beispiel Swiss Air aufzugreifen: Es gibt ja Unternehmen, die täglich andere Unternehmen kaufen – etwa Private-Equity-Fonds. Wir haben uns angesehen, wie dort die Entscheidung getroffen wird, zusätzliches Geld in ein Unternehmen zu investieren. In Partnerships, wo die Leute ihr eigenes Geld investieren, herrscht da Einstimmigkeit. Und derjenige, der den Case vertritt, hat kein Stimmrecht.
EF: Bei manchen von diesen Gesellschaften.
GF: Ja. Bei denen, wo bewusst versucht wird, Biases zu eliminieren. Dann ist es erheblich schwieriger, schlechtem Geld gutes Geld nachzuwerfen. Verhaltensökonomische Erkenntnisse in der Management- und Politikpraxis zu verwenden, hilft, bessere Massnahmen und Strategien zu designen und bessere Entscheidungen zu treffen. Das reicht aber nicht. Bei der Implementierung einer guten Strategie muss man menschliches Verhalten – von Kunden, Wettbewerbern, etc. – realistisch antizipieren. Und nicht eigene Annahmen walten lassen.
Topmanager glauben meist, dass sie selbst hochrational entscheiden, die Konsumenten und Mitarbeiter aber irrational.
Wo in der Wirtschaftswelt lassen sich die Erkenntnisse sonst noch anwenden?
CF: Verhaltensökonomie ist ein Filter, den man auf viele Themen anwenden kann. Ein Beispiel sind Diversitätsfragen – ich war hier selbst immer ein bisschen zögerlich. Etwa bei der Frage nach der Quote. Doch die Verhaltensökonomie gibt Antworten. Etwa im Buch „What Works“ von Iris Bohnet, die analysiert, warum wir eine Frauenquote brauchen. Sie argumentiert etwa mit dem Spruch „We believe what we see“: Es gab Experimente in Indien, wo Mädchen abgetrieben werden – da musste nach der Einführung einer Regelung in den 90er-Jahren jedes dritte Dorf eine Bürgermeisterin einsetzen. Eine Langzeitstudie ergab, dass Frauen nicht nur Bürgermeisterinnen geworden sind, sondern auch eine Rückkopplung auf die Eltern stattfand. Diese konnten sich plötzlich vorstellen, dass ihre Töchter Bürgermeisterinnen werden – und wurden daher auch seltener abgetrieben. Die zweite Erkenntnis: Man will Auswahl haben. Es gibt den Spruch: „Lieber die zweitbeste Frau als den drittbesten Mann.“
GF: Matthias Suter, ein österreichischer Ökonom am Max-Planck-Institut, konnte in Experimenten zeigen, dass die Aussage im Schnitt stimmt: Dass so die beste Frau zum Zuge kommt – und die beste Frau ist besser als der beste für diese Position zur Verfügung stehende Mann.
EF: Nein, das ist nicht, was er gezeigt hat. Er hat gezeigt, dass Frauen weniger dazu neigen, in den Wettbewerb zu gehen…
GF: Das haben wir schon gewusst – das musste er nicht mehr zeigen.
EF: … und dass sich deshalb gute Frauen gar nicht erst zur Wahl stellen. Die Quote führt aber dazu, dass sich gute Frauen zur Wahl stellen. Und dann sind die besten Frauen nicht unbedingt besser als die besten Männer, sondern: Die besten Frauen sind in der Regel besser als die zweit- und drittbesten Männer.
GF: Das habe ich ja gemeint.
CF: Die Quote führt nicht dazu, dass man nur die besten Frauen bekommt beziehungsweise dass Frauen besser sind als die Männer. Doch man bekommt mehr Frauen in den Pool hinein. Und weil mehr gute Frauen im Pool sind, verdrängt man die mittelmässigen Männer. In Summe hebt sich so das Niveau der Manager. Das ist die Aussage..
EF: Dann sind wir uns ja wieder einig.