ERFOLGSMAGNETEN

Elf Millionen Menschen sterben jährlich an den Folgen einer Sepsis, wirksame Gegenmittel gibt es kaum. Doch Hemotune, ein Spin-off der ETH Zürich, will diese Lücke mithilfe eines revolutionären, auf magnetischen Nanopartikeln basierenden Verfahrens schliessen. Mit ihrer ambitionierten Vision stehen Lukas Langenegger (rechts) und Carlos Mora stellvertretend für unsere Liste „30 Spin-offs To Watch 2021 DACH“.

Menschen aufgereiht auf Krankenhaus­ betten liegend, allesamt auf den Bauch gedreht, angeschlossen an Beatmungs­geräte. Gesundheitsarbeiter, die in Schutzkleidung hektisch zwischen den Betten umherlaufen und nach den Patienten sehen. Panik, Angst, Leid, Elend – als das Coronavirus im März 2020 in Italien erstmals in einem Land völlig ausser Kontrolle geriet, gingen die Fernsehbilder aus den völlig überfüllten Intensivstationen um die Welt. Zahlreiche der Patienten schafften es nicht mehr aus dem Krankenhaus – Schätzungen zufolge sterben rund 30 bis 40 % aller Patienten, die aufgrund von schweren Covid­-19­-Verläufen auf Intensivstationen behandelt werden.

Doch obwohl das Coronavirus primär die Atem­wege angreift, ist die Todesursache meist eine ­andere. Denn letztendlich stirbt der Grossteil der Patienten an einer Sepsis. Was gemeinhin als Blutvergiftung bezeichnet wird, ist nicht ganz einfach zu beschreiben; im Wesentlichen handelt es sich um eine falsche Reaktion des Immunsystems. Der Körper will eine ausser Kontrolle geratene Infektion – egal ob bakteriell, traumatisch oder wie eben bei Covid-19 viral – bekämpfen, reagiert aber falsch, wodurch die eigenen Organe angegriffen werden. Es kommt im schlimmsten Fall zum (multiplen) Organversagen und zum Tod.

„Die Sepsis“, erzählt Lukas Langenegger, als wir ihn per Zoom zum Videointerview treffen, „ist die schlimmste Form jeder Infektion. Es handelt sich dabei eigentlich um die Stufe, an der der Körper die Kontrolle über die Infektion verliert. Alle Covid-19-Patienten auf der Intensivstation haben eine Sepsis.“ Doch das Problem ist grösser als nur Corona: 49 Millionen Menschen erleiden jährlich eine Sepsis, wie ein Autorenteam im renommierten Wissenschaftsmagazin The Lancet im ­Januar 2020 erhob. Davon sterben elf Millionen Menschen. Das ist ein Fünftel aller jährlichen Todes­fälle weltweit. Und: Die Dunkelziffer könnte deutlich höher liegen.

Doch wenn Sepsen so gefährlich sind und so viele Menschenleben fordern – warum wird das Thema in der Öffentlichkeit kaum diskutiert? „Das Thema wurde lange Zeit sehr stiefmütterlich behandelt“, sagt Langenegger, „auch, weil die Pharma­konzerne daran gescheitert sind, ein Gegenmittel zu finden. Man kann den Bereich auch als ‚Graveyard of pharmaceutical development‘ ­bezeichnen.“ Die längste Zeit wurde versucht, das eine Medikament oder die eine Behandlung zu finden. Das ist aber laut Langenegger nicht möglich, denn eine Sepsis ist komplex; ein Gegenmittel zu entwickeln noch komplexer. „Bei einer Sepsis ist die normale Infektion oft auch gar nicht mehr das Problem, sondern die daraus resultierenden Schädigungen des Immunsystems.“

Die Komplexität scheint Langenegger aber nicht abzuschrecken, denn der 31-Jährige hat es sich zum Ziel gesetzt, das Problem zu lösen. Das von ihm mitgegründete Schweizer Start-up Hemotune hat eine Methodik entwickelt, die Patienten wirksam helfen soll: Statt die Sepsis medikamentös zu behandeln, hat Hemotune ein Verfahren entwickelt, das die entstandenen Giftstoffe im Blut ähnlich einer Dialyse und mithilfe von Nanopartikeln identifiziert und abtrennt.

2017 von CEO Langenegger, Chief Science Officer Carlos Mora sowie Corinne Hofer, die das Unternehmen mittlerweile verlassen hat, als Spin-off der ETH Zürich gegründet, scheint 2021 für Hemotune ein entscheidendes Jahr zu werden. Mit der jüngsten Finanzierungsspritze von 5,1 Millionen CHF und einem Thema, das im Zentrum der grössten Gesundheitskrise der letzten Jahrzehnte steht, hat Hemotune alle Hände voll zu tun, um die Erwartungen zu erfüllen. Die ETH Zürich glaubt jedenfalls an das Team: Nicht umsonst hat die Spitzenuniversität in der DACH-Region Hemotune für die Forbes-Liste „Spin-offs To Watch 2021 DACH“ nominiert.

Dabei stehen Langenegger, Mora und ihre 16 Mitarbeiter von Hemotune repräsentativ für alle Gründer auf dieser Liste, die universitäre Spin-offs vorstellt, die die besten (technischen) Hochschulen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nominiert haben und die Aufsehen erregen werden: Der Kapitalaufwand ist hoch, die Entwicklungsphasen lang, die Herausforderung für Forscher, unternehmerisch zu agieren, ist gross. Doch Langenegger ist überzeugt, dass Hemotune Erfolg haben wird: „Wir sind mit unserer Entwicklung wirklich ,on the edge of science‘.“

Lukas Langenegger
...absolvierte nach der Schule eine Ausbildung bei der UBS, anschliessend studierte der Schweizer an der ETH Zürich und am MIT.
2016 promovierte er, 2017 gründete er mit Carlos Mora und Corinne Hofer Hemotune.

Im Zuge der extremen Immunantwort des Körpers auf die Infektion bilden sich während der Sepsis Giftstoffe, die ihren Weg ins Blut und damit in den ganzen Körper finden – was auch die Bezeichnung „Blutvergiftung“ erklärt. Um eine Sepsis zu behandeln, müssen diese Giftstoffe identifiziert und eliminiert werden, um dem Körper die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen. Ansätze gab es viele; sie scheiterten jedoch meist daran, die richtigen Toxine zur rechten Zeit effektiv zu entfernen. Die Bedürfnisse seien äusserst komplex. Langenegger: „Sepsispatienten sind sehr unterschiedlich, zudem verändert sich die Krankheit in der Zeitachse sehr stark. Ein Patient heute braucht eine andere Behandlung als ein Patient morgen.“

Mit der eigenen Lösung, Hemosystem, glauben Langenegger und Mora, der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein. Dabei werden kleinste Magnetkügelchen genutzt, die mit funktionellen Schichten aus Polymer umhüllt werden. „Dann kommt ein spezifisches Bindungsmolekül an die Oberfläche, das ganz gezielt an die Zielsubstanz andockt“, erklärt Langenegger. Nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip findet das Molekül also nur die „bösen“ Stoffe, dockt sie an die magnetischen Kügelchen an – und diese werden dann gemeinsam mit den Toxinen aus dem Blut gefiltert.

Das Ganze entspricht in vielen Aspekten ­einer Dialyse, denn auch Hemotunes Verfahren ist ein extrakorporales: Das Blut wird aus dem Körper und durch eine Maschine geleitet; dort wird es „gereinigt“, bevor es wieder in den Blutkreislauf eingeführt wird. Das Problem: Eine Sepsis führt so weit, dass das Immunsystem den Körper nicht mehr schützen kann. Man spricht von einer „sepsis associated immunosuppression“.

Was Hemotune besser macht als etwa medikamentöse Ansätze, die von Pharmakonzernen oft bevorzugt wurden, hat Langenegger auch schnell erklärt: Medikamentöse Ansätze versuchen demnach stets, einen einzelnen Indikator zu finden und diesen zu neutralisieren. Doch es gibt Umwege, die die Sepsis nutzen kann, um dem Körper zu schaden: „Das ist, als ob man die Landstrasse von Zürich nach Bern schliesst, die Autobahn, die Nationalstrasse sowie die Zugverbindung aber geöffnet bleiben“, stellt Langenegger einen Vergleich an.

Hemotune setzt daher auf die Wieder­herstellung der Immunkompetenz der Patienten. Durch die Ausfilterung von Boten- und Giftstoffen kann sich das Immunsystem schneller erholen. „Dadurch erwarten wir eine deutlich positive Auswirkung auf den Ausgang der Sepsis. Darauf deuten auch bestehende Daten hin“, so der Hemotune-CEO. In einer engen Kooperation mit Krankenhäusern, insbesondere dem Inselspital in Bern, will das Team Hemosystem weiter ausbauen. Das Gerät selbst besteht aus einem Monitor sowie einem Tank, von dem zahlreiche Schläuche ausgehen. Dieses sollen die Krankenhäuser ankaufen und in der Behandlung anwenden.

Sein Geld verdient Hemotune, das sich aktuell aus Risikokapital sowie Förderungen finanziert und noch keine nennenswerten Umsätze vorweisen kann, jedoch anderswo. Langenegger: „Unser Geschäfts­modell baut auf den magnetischen Kügelchen auf, die wir ins Blut geben. Da ist der echte Wert für uns drinnen, das ist auch das Teure an der Behandlung. Die Maschine selbst ist da fast vernachlässigbar.“ Wie viel die Maschine oder die Magnetkugeln kosten sollen, will Langen­egger nicht konkretisieren – das Ziel sei jedoch, die Kosten pro Behandlung im Vergleich zu anderen Verfahren, die schon mal 500.000 CHF kosten können, niedrig zu halten. Der Hemotune-CEO will das Verfahren für „wenige Tausend Franken“ anbieten.

 

SEPSIS – EINE ECHTE BEDROHUNG
(Quelle: The Lancet)

Für einen Medtech-Gründer startete ­Langeneggers Reise an einem ungewöhn­lichen Ort: einer Bank. „Ich wusste nach der Schule nicht, was ich studieren möchte, wollte aber auch nicht einfach Ferien machen. Also fing ich bei der Bank zu arbeiten an“, sagt er. Langen­egger absolvierte eine zweijährige Ausbildung bei der Grossbank UBS. „Das war supergut.“ Dennoch: Seine Zukunft sollte anderswo liegen.

 

HEMOTUNE IN ZAHLEN
(Quelle: Unternehmensangaben)

Nach zwei Jahren wollte er etwas Technisches machen und studierte ab 2010 an der ETH Zürich Chemical Engineering. Seine Master­arbeit verfasste er dann an der US-Eliteuniversität MIT, wobei er sich mit der Energiekrise beschäftigte: „Ich wollte immer an grossen Problemen arbeiten.“ Zurück in Zürich blieb das sein Antrieb – und als er dann zufällig auf die Forschungsgruppe stiess, die an einer Kur für Sepsis arbeitete, war es um ihn geschehen. Er machte seinen PhD in dem Bereich, 2017 wurde Hemotune offiziell als Spin-off der ETH und unter Mithilfe der Professoren gegründet. Als CEO bringt Langen­egger übrigens zwei selten kombinierte Fähigkeiten mit: Das Gefühl für wirtschaftliche Prozesse und Zahlen hat er aus seiner Zeit bei der UBS, das ­Wissen um das von Hemotune entwickelte Verfahren versteht er aufgrund seines Studiums. „Ich mache in unserem Unternehmen sehr wenig wirklich ­Tieftechnisches, aber wenn mir jemand etwas davon erzählt, verstehe ich es und kann quasi aus einer Helikoptersicht neue Ideen und Aspekte einbringen.“ Für das Tieftechnische ist sowieso Carlos Mora zuständig: Der Mikrobiologe hat sich auf das Immunsystem spezialisiert und verantwortet als Chief Science Officer die wissenschaftliche Arbeit des Spin-offs. Hinzu kommen die Professoren Wendelin Stark, der im Feld Nanotechnologie und Materialwissenschaften spezialisiert ist, Robert Grass, der sich mit Nanopartikeln beschäftigt, sowie Inge Herrmann, die sich zusätzlich noch intensiver mit magnetischen Nanopartikeln beschäftigt. Neben einer passenden Vision und einem starken Gründerteam hatte Hemotune zu Beginn aber auch das nötige Quäntchen Glück, denn schon früh unterstützte Wyss Zurich, ein Inkubator von ETH und Universität Zürich, das Team – mit Know-how, Kontakten, Infrastruktur und auch einem für ein frühphasiges Start-up „hohen Geldbetrag“. 2020 gelang der Durchbruch: Investoren steckten 5,1 Millionen CHF in das Unternehmen, insgesamt hat Hemotune bereits rund 11 Millionen CHF an Fremdkapital aufgenommen, davon rund 25 % aus Grants. Dabei ist klar, dass das ­schnelle Geld hier nicht zu machen ist: „Wir brauchen Partner, die einen langen Atem haben“, so Langen­egger. Um diese Partner an Bord zu holen, mussten die Gründer jedoch auch ordentlich Federn lassen: Langenegger und Mora wollen zwar keine genauen Angaben machen, wie hoch ihre Beteiligungen am Unternehmen noch sind – jedoch liegen die Gründer heute „weit unter der Hälfte“, wie Langenegger sagt. Neben den Gründern sind acht weitere natürliche Personen investiert, alles Schlüsselpersonen oder Gründer (darunter auch die Professoren Stark und Grass). Hinzu kommen die ETH Zürich, Venture Kick sowie die Finanz­investoren Occident. Das sei in dieser kapital­intensiven und risikoreichen, aber gleichzeitig lukrativen Branche jedoch irrelevant, wenn man das Produkt in den breiten Markt bringe.

Als nächsten grossen Schritt führt Hemo­tune mit der Universität Bern eine klinische Studie durch, bei der das Gerät zum Einsatz kommen soll. Doch Langenegger kann sich auch gut vorstellen, die Technologie auszuweiten: Autoimmunerkrankungen, Krebs oder Organtransplantationen sieht er durchaus im Bereich des Möglichen. Fest steht lediglich, dass er sein grosses Problem gefunden hat: „Der Kuchen wird sehr gross, wir müssen ihn nur fertig backen. Das schaffen die meisten nicht. Wenn es uns aber gelingt, dann bleibt für jeden ein grosses Stück übrig.“

Text: Klaus Fiala
Fotos: Lukas Lienhard

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 1/2–21 zum Thema „Innovation & Forschung“.

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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