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Die Welt hat bei der Bekämpfung von extremer Armut in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht. Doch Schwierigkeiten bei der..
Die Welt hat bei der Bekämpfung von extremer Armut in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht. Doch Schwierigkeiten bei der Messung und eine zunehmende soziale Ungleichheit machen die Aufgabe, die restlichen 800 Millionen Menschen aus diesem Zustand zu befreien, nicht gerade einfacher.
Es ist eine für Westeuropäer – gelinde gesagt – verwunderliche Zahl, die im Kontext extremer Armut die Runde macht. 2015 wurde die Schwelle, unter der ein Mensch als extrem arm gilt, angehoben – auf 1,90 Internationale Dollar (von der Weltbank berechnete Vergleichswährung, Anm.) pro Tag. Dabei wird der tägliche Konsum, nicht das Einkommen von Einzelpersonen gemessen.
Die Bekämpfung der extremen Armut und des Hungers, die die Vereinten Nationen als Ziel Nummer eins in den Millennium Development Goals formulierten, ist eine der grossen Erfolgsgeschichten der Menschheit. Daran beteiligt waren auch die Weltbank, IWF und OECD. Das Ziel, die Rate von Menschen in extremer Armut zu halbieren, wurde bereits 2010 – fünf Jahre vor der Deadline 2015 – erreicht. Seit 1990 wurden über eine Milliarde Menschen aus der extremen Armut gehoben. Dennoch leben noch immer rund 800 Millionen Menschen unter der Armutsschwelle – zumindest laut den Zahlen 2015, die die aktuellste Schätzung beinhalten.
1820 betrug die globale Rate der extremen Armut noch über 80 Prozent, 2015 waren es nur knapp zehn Prozent.
Jim Yong Kim, Präsident der Weltbank, sagte dazu, nicht wenig euphorisch: „Das ist das Beste, was derzeit in der Welt passiert. Die Prognosen zeigen, dass wir die Generation sein könnten, die extreme Armut beendet.“ Doch ganz so einfach wird es wohl nicht werden. Einerseits ist die Messung von Armut äusserst schwierig. So schreiben die Ökonomen Max Roser und Esteban Ortiz-Ospina in einem Paper mit dem Titel „Global Extreme Poverty“, dass die unterschiedlichen Preisniveaus in den verschiedenen Ländern den Vergleich erschweren. Der Indikator der Kaufkraftparität fängt diese Schwächen – zumindest teilweise – auf. Denn selbst mit leichten Änderungen technischer Details ist der Trend signifikant fallend, wie die Weltbank erklärt. Gleichzeitig ist das Überschreiten der Schwelle von 1,90 Internationalen Dollars kein Ticket in ein Leben voller Freuden. Auch mit einem Konsum von 1,91 Internationalen Dollars pro Tag sind Menschen weiterhin arm. Jeder Konsum unter vier US-$ gilt nämlich in einer Zwischenstufe als „moderat arm“. Dennoch: Im historischen Vergleich ist die weltweite Armutsrate von rund zehn Prozent ein sensationeller Wert. Im Jahr 1820 lag die Rate noch bei über 80 Prozent.
Die Messschwierigkeiten beziehen sich aber nicht nur auf die Indikatoren. Denn zumei st werden auch wohlhabende Länder – also Deutschland, Österreich, die Schweiz – in den Datensets ignoriert. Die Tatsache, dass auch in diesen Ländern Menschen auf der Strasse leben, stellt hinter diese Methodik jedoch ein Fragezeichen. In Deutschland geben etwa rund zwei Prozent der Menschen an, schon mal obdachlos gewesen zu sein – in den USA liegt dieser Wert bei über sechs Prozent.
Das Überwinden der Armutsschwelle bedeutet kein Leben in Freuden. Auch dann sind Menschen noch „moderat arm“.
So lag auch die Armutsrate in den Vereinigten Staaten laut offiziellen Schätzungen nicht – wie anhand der Schwelle von 1,90 Internationalen Dollars zu erwarten – nahe null, sondern bei 13,5 Prozent. Denn die Armutsschwelle liegt – an die USA angepasst – bei rund 16,5 US-$ pro Person und Tag.. Zudem machen in reichen Ländern Ersparnisse und Sozialtransfers die messtechnische Trennung zwischen Konsum (der verwendeten Messgrösse) und Einkommen deutlich schwieriger. Deswegen entscheidet sich die Weltbank auch, die Armutsraten in wohlhabenden Ländern zwar zu berechnen, diese aber nicht in die globalen Zahlen zu integrieren.
Das gängige Argument, dass alleine China für diese Reduktion der Armut verantwortlich sei, ist falsch – oder zumindest nur teilweise richtig. Denn natürlich war Chinas beispielloser Wirtschaftsaufschwung ein starker Treiber. So lebten 1981 rund 88 Prozent der Chinesen in extremer Armut, jüngste Schätzungen beziffern diese Rate mit lediglich zwei Prozent.
Doch wie Max Roser herausfand, war die Reduktion der Armut auch ohne China signifikant. So schreibt der Ökonom: „Wir interessieren uns für Menschen – nicht Länder. Und da jeder fünfte Mensch auf der Erde aus China stammt, ist die Reduktion der Armut im Land eine spezielle Leistung. Extreme Armut reduzierte sich dennoch in China – und im Rest der Welt.“ Dass die restlichen rund 800 Millionen Menschen, die mit weniger als dem von der Weltbank festgesetzten Wert auskommen müssen, bis 2030 die extreme Armut verlassen werden, scheint wahrscheinlich. Doch die Herausforderungen sind dennoch gegeben. Wie bereits erwähnt sind Menschen knapp über der Schwelle alles andere als reich. Zudem ist der Menschheit oft nicht bewusst, wie die aktuellen Zahlen aussehen. In einer Umfrage in Grossbritannien sagten etwa 55 Prozent der Befragten, dass sich die Armut in den letzten 30 Jahren erhöht habe, 33 Prozent gaben an, die Armut wäre gleich geblieben. Nur zwölf Prozent lagen richtig mit ihrer Annahme, dass sie zurückgegangen sei.
Zudem ist die regionale Verteilung nicht unbedeutend. Während sich die Zahlen in der Region Asia-Pacific seit den 1980er-Jahren deutlich verringert haben, fiel die Rate der extremen Armut an der Gesamtbevölkerung in der Region Subsahara in Afrika kaum. Und auch auf nationaler Ebene lässt sich dieses Problem beobachten: Während China mehr als eine Milliarde Menschen aus der Armut hob, stieg diese Zahl etwa in den USA und Italien seit 2000 wieder. Auch die soziale Mobilität stellt die Gesellschaft vor Schwierigkeiten. Denn trotz der Flucht aus der Armut haben Menschen aus unteren sozialen Schichten weiterhin in den meisten Ländern weltweit eine schlechtere Ausgangslage als jene, die in besser betuchten Umgebungen aufwachsen. Das Problem kritisiert auch wiederum die Weltbank. Denn die Schere geht vor allem in Entwicklungsländern weiter auf. Das Pro-Kopf-Einkommen der Ärmsten in den Entwicklungsländern fiel seit 1990. Gerade Länder wie China könnte dieses Schicksal schmerzhaft ereilen; vor allem, falls sich die Wachstumsraten des Landes wirklich einbremsen sollten. Dass mehr Menschen der extremen Armut entkommen und so zumindest den ersten Schritt in Richtung eines selbstbestimmten Lebens machen, ist aber jedenfalls ein Grund zur Freude. Umso mehr, falls die extreme Armut wirklich bis 2030 vollständig beendet sein sollte.
Text: Klaus Fiala
Illustration: Valentin Berger
Fotos: Pexels, Grayeme