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Der Wettlauf um innovative und nachhaltige Lösungen zwischen den Städten dieser Welt, hat längst begonnen. Doch wie trifft eine Stadt, die gerade dabei ist, sich von Grund auf neu aufzustellen, smarte Entscheidungen?
Xiong’an – so nennt sich die neue Verwaltungseinheit in China, welche zugleich eines der bahnbrechendsten Bauprojekte der nächsten Jahrzehnte des Landes sein wird. Eine neue Verwaltungseinheit ist es deshalb, da drei bestehende Kreise der Provinz Hebei zu einer neuen Provinz fusioniert werden. Inmitten dieser wird eine Megastadt errichtet, die sich von allen bestehenden chinesischen Städten abheben soll. Das Alleinstellungsmerkmal soll der umweltschonende Grundgedanke bei allen baulichen Beschlüssen darstellen. Etappenweise soll die „Xiong’an New Area“ eine Gesamtfläche von 2.000 Quadratkilometer erreichen. Das entspricht in etwa der Fläche von Wien und London zusammen.
Die ersten (baulichen) Implementierungen finden zunächst auf einem weit überschaubareren Areal von 100 Quadratkilometer statt. Diese Zahl soll sich aber bereits in den kommenden Jahren verdoppeln. Seit Anfang diesen Jahres wird die Errichtung von Schlüsselprojekten vorangetrieben. Planung und Design für die Stadt stammen von 24 Ingenieur- bzw. Architekturbüros und Institutionen aus aller Welt, die zuvor aus rund 400 Bewerbern ausgewählt wurden. Die offizielle Verkündigung des chinesischen Zentralkomitees gibt klar zu verstehen: Xiong‘an soll das Vorzeigemodell für die „Stadt der Zukunft“ werden. Der Bedarf an einer komplett neuen Stadt geht auf den akuten Platzmangel im nahegelegenen Peking zurück. Vor allem junge Menschen und Unternehmen im High-Tech-Bereich sollen nach und nach in Xiong’an einfinden. Die Mission lautet, eine Balance zwischen ständigem Wachstum und der Erhaltung der Natur zu finden – oder kurz gesagt: Green growth.
Erneuerbare Energie hinter den Kulissen
Die Planungen zu Xiong’an sind abgeschlossen, die Bauphase ist im vollen Gange. Ein wichtiger erster Schritt ist die Verlegung unterirdischer Pipelines, um unter anderem die Infrastruktur der Wasser-, Strom- und Gasversorgung bereitstellen zu können. Zwischen Xiong’an und der naheliegenden Hauptstadt der Provinz Hebei, Shijazhuang, wurde vor kurzem ein 1000-Kilovolt-Ultrahochspannungsprojekt in Betrieb genommen. Dadurch soll künftig eine saubere Energienutzung für die gesamte Stadt gesichert werden. Mehrere solche Projekte in Nordchina werden durch ein unterirdisches Netz verbunden. Wind- und Sonnenenergie, welche in anderen Gebieten erzeugt wird, fliesst dann auch nach Xiong’an.
Vom Fischen, EVs und smarten Supermärkten
Ein geschichtsträchtiger Stadtkern oder eine Innenstadt mit Einkaufsstrassen, wie man es von europäischen Städten kennt, sind nicht vorgesehen. Vielmehr orientiert man sich in Xiong’an an zwei Zielen: Erstens, einen starken neuen Wirtschaftsstandort zu etablieren. Zweitens, die umliegende Natur zu schützen, und doch auch aus ihr zu schöpfen. Der See Baiyangdian ist der grösste Südwassersee im Norden Chinas, und wird auch als „Niere der Provinz“ bezeichnet. Bekannt ist er vor allem für seinen Teppich aus Lotusblüten, der zugleich eine Touristenattraktion ist. Die zahlreichen Speisefische sind eine wichtige Ressource für die Fischer in der Region. Der 78 Quadratkilometer grosse See soll in den nächsten Jahren auf das Vierfache anwachsen, um das in der Vergangenheit von Dürre und Übernutzung geplagte Gewässer wieder aufleben zu lassen. 200 Millionen Kubikmeter Wasser müssen dafür jährlich aus dem Gelben Fluss abgeleitet werden. Erste Schutzmassnahmen haben bereits zu einer Verbesserung der Wasserqualität und einen niedrigeren Verschmutzungsgrad geführt, bestätigte zuletzt das Umweltprogramm der Vereinten Nationen.
Doch Xiong’an soll nicht nur ein Ort für Umweltschutz sein, sondern auch Arbeitsplätze generieren – allen voran durch die zahlreichen Hightech-Unternehmen, die sich laufend dort ansiedeln. Dabei zeichnet sich das künftige Industriegebiet vor allem durch eines aus: Autonome Fahrzeuge. Cainiao, das Einhorn und Logistikunternehmen der Alibaba Group, hat hier bereits seinen Standort eröffnet. Arbeitswege werden hauptsächlich von smarten Fahrzeugen zurückgelegt, deren Design ganz unterschiedlich ausfallen kann. 50 Mrd. Yuan (7,25 Mrd. US-$) Umsatz sollen künftig allein durch Cainiao für China erwirtschaftet werden. Alibaba-CEO Jack Ma setzt dabei auf Digitalisierung, Vernetzung durch IoT (Internet of Things) und innovative Lösungen wie beispielsweise Pick-up Stationen, die sich automatisch dem Gewicht und der Grösse eines Pakets anpassen können.
Selbst beim Lebensmitteileinkauf wird in Xiong’an nichts dem Zufall überlassen. Jd.com ist ein Internetunternehmen sowie eine virtuelle Handelsplattform, welches zuletzt seinen physischen „7Fresh Store“ in Peking eröffnet hat. Auf 4000 Quadratmetern wird man von smarten Einkaufswägen zur gewünschten Abteilung geführt und bedient. Die Filiale im neuen Xiong’an ist zwar um ein Vielfaches kleiner, steht laut Online-Erfahrungsberichten jener aber in puncto High-Tech Erlebnis um nichts nach. Kaufanliegen werden über Gesichtserkennung verarbeitet. Ein einfacher Gang durch die „Bezahlstrasse“ genügt ohne dafür zum Portemonnaie greifen zu müssen. Dass so ein Geschäftsablauf ganz ohne menschliche Angestellte abgewickelt wird, erschliesst sich von selbst. JD und die Alibaba Group sind derzeit die grössten Kontrahenten in der E-Commerce Branche. Letzterer hat ebenso bereits seine „intelligenten“ Lebensmittelgeschäfte im ganzen Land aufgebaut. Welches der beiden Unternehmen letzten Endes die Nase vorne haben wird, hängt vor allem von Faktoren wie Geschwindigkeit und Innovationskraft ab.
16 Jahre bis zur Vollendung
2035 soll Xiong’an fertiggestellt werden und fünf Millionen Einwohner haben. Häuser sollen durch Erdwärme beheizt und ein angemessenes zu Hause für die vielen Bürger werden, die sich mit ihren niedrigen Gehältern keine Wohnung im nahegelegenen Peking leisten können. Laut den Plänen wird die Hauptstadt von der Hebei Provinz einfach und schnell zu erreichen sein – und zwar mittels einer Hochgeschwindkeitsstrecke per Zug in nur 30 Minuten. Das Projekt Xiong’an steckt noch in den Kinderschuhen – die Ankündigungen sind vielfältig und visionär. Achtsamkeit gegenüber der Natur und Lebensqualität wird einerseits grossgeschrieben. Doch das Gebiet grenzt auch an weniger progressive Plätze. Die nahe gelegene Industriestadt Baoding ist bekannt als Ort mit der miserabelsten Luftqualität im Land, Smog dominiert den Alltag – die Schwerindustrie hat nicht nur hier gravierende Spuren hinterlassen. In der Provinz Hebei liegen insgesamt sieben der zehn Städte mit den bedenklichsten Feinstaub-Werten in ganz China. Ob Xiong’an daneben einmal tatsächlich als lebenswerte „Smart City“ brilliert, gilt abzuwarten.
Text: Chloé Lau
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