DIREKTORIN DER GERECHTIGKEIT

Inmitten der Coronavirus-Krise nutzen Cyberkrimi­nelle verstärkt die Angst und die steigenden ­Online-Aktivitäten der Bevölkerung aus, warnt Europol-Exekutivdirektorin Catherine De Bolle. Wie reagiert die Strafverfolgungsbehörde der EU auf die vermehrten Cyberangriffe – und wie wird sich Organisierte Kriminalität, online wie offline, dadurch langfristig verändern?

Ende März befand sich das Krankenhaus in Brno, Tschechien, nicht nur aufgrund der Coronavirus-Krise in einem Ausnahmezustand – Cyber­kriminelle hatten zudem noch das IT-System lahmgelegt. Wichtige Operationen mussten daher verschoben und Patienten in eine nahe gelegene Einrichtung verlegt werden. „Wir haben am Anfang der Krise bemerkt, dass die Kriminellen äusserst flexibel sind und ihren Modus Operandi gegenüber einzelnen Bürgern, Unternehmen und öffentlichen Organisationen sofort anpassen können“, sagt Catherine De Bolle, ­Exekutivdirektorin von Europol. „Sie haben immer effizientere Angriffe sowie raffiniertere Phishing-Attacken (Diebstahl von Kennungen und Passwörtern durch das Versenden von gefälschten E-Mails oder SMS, Anm.) durchgeführt. Ebenso sind sie durch den Einsatz technisch hoch entwickelter Mittel an immer hochwertigere Ziele herangekommen.“

Für Europol geht es in der Krise in erster Linie um den Schutz des Gesundheitssektors und der Unternehmen, die für die medizinische Versorgung verantwortlich sind. So vereitelten Finanz- und Strafverfolgungsbehörden unter der Koordination von Europol und Interpol etwa einen Millionenbetrug mit dem (vermeintlichen) Verkauf von ­Schutzmasken. Doch Cyberkriminalität ist nicht die einzige Agenda, die De Bolle als ­Exe­kutivdirektorin von Europol zukommt.

Catherine De Bolle
... geboren 1970, beendete 1993 ihr Studium der Rechts­wissenschaft an der Universität Gent. 2012 wurde sie als erste Frau Generalkommissarin der belgischen Nationalpolizei, 2018 Exekutivdirektorin von Europol.

Denn die Strafverfolgungsbehörde der EU wird bei schweren Formen der internationalen Kriminalität tätig – die Straftaten betreffen Terrorismus, internationalen Drogenhandel, Geldwäsche, organisierte Betrugsdelikte, Fälschung des Euro, Schleuserkriminalität sowie Computerkriminalität und Menschenhandel. Dafür beschäftigt Europol rund 1.400 Mitarbeiter – davon sind zwei Drittel Europol-Verbindungsbeamte, die nicht berechtigt sind, Verdächtige festzunehmen oder ohne Zustimmung der nationalen Polizeibehörden zu handeln. Vielmehr leistet Europol vielfältige Unterstützungsleistungen, die dazu beitragen sollen, dass die von den nationalen Strafverfolgungsbehörden durchgeführten Exekutivmassnahmen erfolgreich sind. Laut De Bolle ist während der Coronavirus-Krise neben dem generellen Anstieg von Cyberattacken ein weiterer signifikanter Trend zu beobachten: Kriminelle Vereinigungen, die mit Cyberkriminalität nicht sonderlich vertraut sind, rekrutieren vermehrt Hacker, die auf den Einsatz von Phishing und Malware ­(Schadsoftware, zu der unter anderem Viren, Trojaner und Würmer zählen) spezialisiert sind. „Wir sehen einen grossen Anstieg dieses ‚Geschäfts­modells‘“, sagt De Bolle. Begonnen hatte der Trend bereits 2009 mit „Avalanche“: Das Netzwerk für Cyberkriminelle infizierte unter anderem mittels verschiedener Phishing-Attacken weltweit tausende Computersysteme mit Schadsoftware. Hacker wurden über russischsprachige Online-Foren für Online-Betrugsfälle rekrutiert. Der Gesamtschaden, der weltweit alleine durch die Schadsoftware verursacht wurde, belief sich auf mehrere hundert Millionen € – 2016 konnten mit Hilfe von Europol in einem ersten Schritt fünf Verdächtige verhaftet werden. Wie stark die Computerkriminalität während der Covid-19-Krise zugenommen hat, kann De Bolle nicht beziffern. Laut Microsoft schnellte die Zahl der Cyberangriffe allein in der ersten Märzwoche auf fast eine Million pro Tag in die Höhe. Europol warnt bereits seit Jahren vor der raschen Verbreitung von Cybercrime in den EU-Mitglied­staaten. 2018 führte Europol 2.100 ­forensische Arbeiten im Zusammenhang mit Cyberkriminalität durch, insgesamt unterstützte Europol 1.748 Operationen – 2011 waren es noch 695 gewesen. Nach Terrorismus (620 Fälle) stand ­Cyberkriminalität an zweiter ­Stelle (257 Fälle).

Trotzdem wirkt De Bolle gefasst, als wir mit ihr das Telefon­interview führen. Die Europol-­Exekutivdirektorin hat ursprünglich Rechtswissenschaften an der Universität Gent studiert, von 2001 bis 2012 war sie örtliche Polizeichefin der Stadt Ninove. 2012 wurde sie als erste Frau Generalkommissarin der belgischen Nationalpolizei, bevor sie im März 2018 vom Rat der Europäischen Union zur Exekutivdirektorin von Europol gewählt wurde – und sich bei ihrem Amtsantritt im Mai 2018 ein ambitioniertes Ziel setzte: „Der zunehmende Umfang des Informationsflusses zu Europol ist sowohl unser grösster Vorteil als auch unsere grösste Herausforderung. Ich möchte, dass Europol als ein führendes Zentrum für die Analyse strafrechts­relevanter Daten anerkannt wird.“

Europols Exekutivdirektorin Catherine De Bolle will die Behörde als führendes Zentrum für die Analyse strafrechtsrelevanter Daten etablieren.

Dafür hat Europol etwa vor Kurzem die webbasierte Online-Plattform Conan geschaffen, die Kriminalanalytiker in allen Mitgliedstaaten miteinander verbindet. Damit sollen Analysten nicht nur auf EU- sondern auch auf nationaler Ebene zusammenarbeiten können um die gleichen Instrumente und die gleiche Methodik bei der Strafverfolgung zu verwenden. Damit können die zur Verfügung stehenden Daten und Informationen besser verglichen und ausgetauscht werden. Generell haben die Europol-Analysten laut De Bolle bereits Anfang Februar damit begonnen, die Situation zu überwachen und einzuschätzen, welche Auswirkungen Covid-19 auf die schwere und Organisierte Kriminalität, den Terrorismus und die Cyberkriminalität haben wird. Die Analysten gehen davon aus, dass sich auch die Organisierte Kriminalität durch die Coronavirus-Krise nachhaltig verändern wird: Erstens könnten kriminelle Gruppen ­eigene Finanzdienstleistungen wie etwa Kredite anbieten, um dafür erhöhte Zinsen zu verlangen; zudem könnten sie versuchen, rechtswidrig an Gelder der im Rahmen der Krise von der EU geschnürten Finanzpakete zu gelangen.

Darüber hinaus ist es für Wirtschaftskriminelle ein lukratives Geschäftsfeld geworden, in bestimmte notwendige Wirtschaftssektoren zu investieren – und etwa aufgrund der Coronavirus-Krise Firmen zu gründen, die Masken oder andere medizinische Hilfsmittel herstellen, die oftmals jedoch gar nicht existieren. De Bolle: „Insgesamt erwarten wir auf längere Sicht, dass Kriminelle aufgrund der Krise illegal viel Geld machen – und dieses werden sie auch entsprechend einsetzen.“ Um insbesondere die Komplexität der Finanzdelikte im Internet in den Griff zu bekommen, wurde Anfang Juni das European Financial and Economic Crime Centre (EFECC) gegründet, um EU-Mitgliedstaaten und EU-Einrichtungen im Bereich der ­Finanz- und Wirtschaftskriminalität zu unterstützen. Gesamt gesehen warten auf ­Europol und De Bolle also grosse ­Herausforderungen, für die es ­kluge Lösungen braucht. Somit scheinen das steigende Datenaufkommen und die Online-Aktivitäten wirklich das zu sein, von dem De Bolle bei ihrem Amtsantritt gesprochen hat: Europols grösster Vorteil – aber auch seine grösste Herausforderung.

Text: Niklas Hintermayer
Fotos: Europol

Der Artikel ist in unserer Juni-Ausgabe 2020 „Next“ erschienen.

Niklas Hintermayer,
Redakteur

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