Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.
Bestandsaufnahme: Warum hinkt Deutschland digital hinterher – und wo sind wir richtig gut?
Digitalisierungsexperten und Gründer Appsfactory GmbH: Dr. Belter, Dr. Trommen, Dr. Kluge (von links)
2.700 Stellwerke möchte die Bahn seit Langem digitalisieren – drei hat sie bislang geschafft. Diese 0,11 Prozent-Digitalisierungskatastrophe ist typisch für den dramatischen Rückstand Deutschlands auf diesem Gebiet – insgesamt und besonders bei der öffentlichen Hand und dazugehörigen Firmen.
Wir von der Appsfactory haben in 13 Jahren über 700 Digitalisierungsprojekte in 500 Unternehmen begleitet. Wir haben viel Vorbildliches in Deutschland gesehen – und etliches, was einem Flughafen BER gleicht. Unser Land hat in puncto Digitalisierung über alle Branchen und Lebensbereiche hinweg grosse Träume und Ambitionen – die Realität besteht aber aus heftigen Lücken und Versäumnissen. Bei manchen Themen wie Digital Health sind wir Schlusslicht aller OECD-Staaten, woanders liegen wir selbst hinter Entwicklungsländern. Cloud-Anbieter kommen komplett aus den USA. Taiwan hat es in 20 Jahren zum Fast-Monopolisten in vielen Bereichen bei Chips gebracht.
Wie misst man Digitalisierung?
Zunächst aber: Was sind die Parameter, an denen man eine erfolgreiche Digitalisierung bewertet? Neben der digitalen Kompetenz der Mitarbeiter sehen wir vier weitere Punkte:
Digitalisierung des Geschäftsbetriebs: Obwohl die Immobilienwirtschaft Nachzügler ist, gibt es Ausnahmen. Mit Vonovia hat der grösste Wohnungsvermieter Deutschlands die komplette Interaktion mit seinen Mietern in Apps digitalisiert. In der Mieterapp können Mieter Übergabeprotokolle und Verträge einsehen, Nebenkostenabrechnungen erhalten oder den Hausmeister rufen. Der operative Betrieb ist fast vollständig digitalisiert.
Disruptive Geschäftsmodelle: Mit der Flaschenpost durften wir in den vergangenen Jahren den Aufbau eines deutschen Unicorns begleiten – bis Oetker es für angeblich eine Milliarde Euro übernommen hat. Ein kleines Startup aus Münster hat erfolgreich die gesamte deutsche Getränkehandelsbranche disruptiert. Zentraler Erfolgsfaktor dabei war die App von Appsfactory, die zwei Drittel aller Bestellungen abwickelt. Funktionen wie Sichtbarkeit des Lieferwagens auf der Karte oder One-Click-Order trugen wesentlich zum kometenhaften Erfolg bei.
Plattformen statt Produkte: Doch bekanntlich läuft es nicht überall rund. Besonders gravierend ist es in der Autoindustrie. Die Entwicklung von Appstores, um ein Plattformgeschäft mit Drittanbietern von Anwendungen aufzubauen, wie es Apple erfolgreich vorgemacht hat, wird fahrlässig vernachlässigt. Geprägt von altem Denken lagern bis heute zumindest zwei der grossen deutschen Autobauer ihren Appstore aus – ausgerechnet zu Harman, einer Tochter von Samsung. Bekanntermassen war Samsung beim Aufbau eines Appstores nicht besonders erfolgreich, im Vergleich zu Apple oder Google. Zur selben Zeit setzt Apple mit seinem Appstore fast soviel um wie einige der Autokonzerne – was gleichzeitig Parameter Nummer 5 ist, nämlich einen ordentlichen Anteil der Umsätze mit digitalen Services zu erzielen.
Am schlimmsten steht es – wenig überraschend – bei Behörden, Verwaltung und Schulwesen. Beispiel 1: In Gesundheitsämtern werden jetzt wieder kräftig Mitarbeiter eingestellt, die Callcenteraufgaben ausführen wie zum Beispiel Corona-Patienten hinterherzutelefonieren. Das könnte man per SMS oder Messenger viel einfacher und hochautomatisiert lösen. Beispiel 2: Corona-Warnapp: Unkenntnis der potenziellen Anbieter und Hinwegsetzen über Ausschreibungsregeln haben 160 Millionen Euro verschlungen. Am Markt hätte die App ein Zehntel gekostet. Ganz zu schweigen von den 20 bis 30 Millionen Euro, die in die unzulängliche Luca-App geflossen sind.
Was können wir tun?
Kann Deutschland noch das Ruder herumreissen? Einzelne Erfolgsstorys wird es immer geben. Mit sehr grossen zusätzlichen Anstrengungen schaffen wir es vielleicht, in 10 oder 15 Jahren zu den Top 15 Ländern weltweit zu gehören – doch nicht zur Weltspitze. Für den grossen Durchbruch fehlen uns insbesondere die Ressourcen: junge Menschen, die Softwareprodukte entwickeln. Die Studentenzahl in den MINT-Fächern ist jüngst sogar zurückgegangen, die Hälfte bricht ihr Studium ab. Informatik ist in der Schule bisher kein Haupt-, sondern eher ein Alibifach. Stattdessen wird mancherorts Altgriechisch gelehrt. Wir sind weder bei Patentanmeldungen noch beim Zukunftsthema KI führend. Aber wie sollten wir dies angesichts der Rahmenbedingungen auch sein?
Was braucht es also? Zwei Dinge: 20 Milliarden für die Bildung in Informatik – als Schulfach ab der 5. Klasse und massive finanzielle Anreize für MINT-Studenten, erfolgreich Ihren Bachelor oder Master abzuschliessen. Daneben muss die Wirtschaft umdenken und weniger Softwareentwicklung ins Ausland verlagern. Kurzfristig mag das billiger sein, aber man kann Softwarekompetenz nicht so schnell zurückholen wie eine Aludruckgussfertigung.
Warum sind uns auch wirtschaftlich schwächere Länder in der Digitalisierung überlegen?
Dies liegt unter anderem daran, dass sie von einem viel niedrigeren Niveau aus angefangen haben: Sie mussten kein analoges System digitalisieren, sondern konnten von null aus aufbauen. Und wer notleidend ist – und Wille und Kompetenz hat –, kann besser durchstarten. Vielen Verantwortlichen hierzulande fehlen der Wille und die Kompetenz – und vielleicht sind wir analog immer noch zu erfolgreich. Wir glauben trotzdem an Deutschland! Denn auch dieser Artikel wird ein kleines bisschen dazu beitragen, dass die Verantwortlichen wachgerüttelt werden und die Digitalisierung verstärkt anschieben.
Foto: Appsfactory