Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.
Annabel Thomas ist die Gründerin der Nc’nean Distillery, der ersten ökologischen und nachhaltigen Whisky-Brennerei Schottlands. Jetzt will die ehemalige Londoner Finanzmanagerin die gesamte Scotch-Industrie umkrempeln.
Als sich Annabel Thomas vor einigen Jahren in die schottischen Highlands zurückzog, hatte sie eine Pause dringend nötig. Jahrelang hatte die Finanzmanagerin alles für den Job und die Karriere gegeben; verglichen mit ihrer Branche, die notorische Workaholics anzieht, war die Wahlheimat ihrer Eltern im hohen Norden der grösstmögliche Kontrast. Hier konnte sie durchatmen: keine Meetings, keine E-Mails, keine Termine, stattdessen raue See, klare Luft und am Horizont die kargen, aber idyllischen Ufer der Insel Mull.
Thomas’ Eltern hatten sich im Drimnin Estate niedergelassen, einer alten Farm auf der Halbinsel Morvern an der abgelegenen Westküste Schottlands – ein Ort wie geschaffen für die Erfüllung von Highland-Sehnsüchten, die so viele Menschen weltweit hegen. Zur perfekten Schottland-Idylle fehlte nur eine Destillerie für Whisky; das fanden auch Thomas und ihr Vater.
„Ich wollte gerne ins Whisky-Business einsteigen, doch ich wollte etwas ganz Neues schaffen“, sagt Thomas im Gespräch mit Forbes. Das schottische Nationalgetränk lebt von der Tradition – echter Scotch muss nach Torf und Nostalgie schmecken, finden viele Liebhaber. „Natürlich ist das Erbe rund um Scotch-Whisky sehr wichtig“, sagt Thomas, „aber niemand schien mutig genug zu sein, die Industrie aufzumischen. Es war Zeit für eine Disruption.“
Etwas mehr als zehn Jahre nach der Gründung stellt sich heraus: Annabel Thomas’ Mut hat sich ausgezahlt. Ihre Destillerie Nc’nean (gesprochen „Nich-nien“) rüttelt inzwischen die gesamte Branche auf. Die 40-jährige Gründerin hat die erste zu 100 % klimaneutrale Destillerie geschaffen, und damit den ersten Öko-Scotch. Was sich anfangs als kompliziert, teuer und aufwendig erwies, ist nun ein Wettbewerbsvorteil – und das beste Verkaufsargument in einer Zeit, in der die Kundschaft in allen Lebensbereichen auf Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein achtet.
Der Name Nc’nean ist von Neachneohain abgeleitet, einer heidnischen Göttin, in der gälischen Folklore die Schutzherrin der Natur. Erst wenige Tage vor unserem Gespräch hatte Thomas den Launch ihres Whiskys in den USA gefeiert: Nach dem europäischen Markt exportiert sie nun auch nach Kalifornien. „Die USA sind noch mehr als Europa sehr interessiert an Marken und Produkten, die für Diversität stehen“, sagt Thomas. Auch hier sticht Nc’nean heraus – Annabel Thomas ist eine der wenigen Frauen und Unternehmerinnen in einer traditionell von Männern dominierten Branche.
Schottischer Whisky ist einer der wichtigsten britischen Wirtschaftszweige. Pro Sekunde werden 53 Flaschen Whisky von Schottland aus in rund 180 Märkte weltweit verschifft. Die gesamte Industrie hat einen Wert von mehr als sechs Mrd. €, 147 schottische Brennereien schaffen 7.000 Jobs in ländlichen und oft strukturschwachen Regionen. Die Whisky-Exporte boomen und verzeichnen zweistellige Wachstumsraten pro Jahr. Unter allen Whisky-Arten gilt Scotch als die weltweit beliebteste, weit vor kanadischen, japanischen und amerikanischen Mitbewerbern.
Eine Investition in Whisky lohnt sich immer, könnte man glauben. Doch um nachhaltigen Scotch zu brennen, muss mit fast allen Traditionen gebrochen werden. Und das erklärt Thomas’ Pionierleistung.
Als familiengeführte und unabhängige Brennerei ist Nc’nean an sich schon eine Rarität – fast 70 % der Brennereien sind im Besitz von Unternehmen, die ausserhalb von Schottland sitzen. Zu Diageo, einem Londoner Konzern, gehören fast die Hälfte aller schottischen Marken, darunter Johnnie Walker, Justerini & Brooks und Vat 69. Weitere 20 % der Destillerien zählen zum Portfolio von Pernod Ricard aus Frankreich, darunter bekannte Marken wie Ballantine’s und The Glenlivet.
Die gewaltige Nachfrage ist für den schottischen Whisky Segen und Fluch zugleich, denn unter dem Erfolg leidet die Umwelt. Erst 2040 will die Branche klimaneutral sein. Dieses Ziel klingt nicht allzu ambitioniert und zeigt: Die Herstellung ist bislang ein schmutziges Geschäft.
Die Mehrzahl der Destillerien verfeuern Millionen Liter Öl oder andere fossile Brennstoffe, um ihren hohen Energieverbrauch zu decken, auch die Gerste und die Fässer haben einen grossen CO2-Abdruck. Die wichtigste Zutat des Single Malt, Gerste, wird aus Kanada oder der Ukraine importiert, auch die in den USA hergestellten Fässer erfordern lange Transportwege. Besonders umstritten ist aber die Verwendung von Torf, der Whisky den besonderen rauchigen Geschmack verleiht.
Torfmoore bedecken zwar nur 3 % der Erdoberfläche, speichern aber doppelt so viel CO2 wie alle Wälder der Erde zusammen. In Irland und im Vereinigten Königreich sind sie für 85 % des Trinkwassers zuständig. Beim Abbau von Torf wird nicht nur Kohlendioxid freigesetzt, auch einer der wichtigsten CO2-Speicher wird vernichtet. Thomas verzichtet daher auf die Verwendung von Torf – auch, um die Moore und die mit ihnen verbundenen Bioreservate zu schützen. Doch nicht alle Brennereien wollen ganz auf die Torfnote verzichten. Der von Brennereien verbrauchte Torfanteil ist global betrachtet zwar sehr gering, doch der Geschmacksverstärker wird auch dank Thomas inzwischen immer mehr als sehr wertvolle Zutat behandelt, die sporadisch und in geringeren Mengen verwendet wird.
Thomas begann bei null und musste zunächst Geldgeber finden. In einer ersten Finanzierung sammelte sie gerade mal 100.000 Pfund ein, doch das genügte, um loszulegen. Ihrer Vision und ihrem Konzept vertrauten Investoren, und in den folgenden Jahren kamen 7,5 Mio. Pfund zusammen. Thomas konnte die Farm umbauen und das wichtigste Werkzeug anschaffen: einen Biomassebrenner der Firma Kohlbach aus Wolfsberg in Kärnten. So konnte Thomas statt wie üblich mit Öl oder Erdgas mit nachhaltigem Brennstoff Energie für die Destillation erzeugen. Im Frühjahr 2017 begann der erste Whisky zu reifen.
Doch nicht nur die Energiegewinnung ist umweltfreundlich. Die Gerste kommt von lokalen Biobauern, die Flaschen bestehen zu 100 % aus recyceltem Glas. Destillierrückstände werden an Kühe verfüttert oder kommen als natürlicher Dünger auf den Acker. Selbst die Reinigung der Geräte ist ökologischer als in anderen Brennereien: Thomas nutzte als erste Whiskyproduzentin ein Reinigungsmittel, das auf natürlichen Enzymen basiert und eher von Bierbrauern verwendet wird; selbst auf diese Details achtet die Gründerin.
Inzwischen stellt Nc’nean rund 250.000 Flaschen klimaneutralen und umweltverträglichen Whisky her. Den verbleibenden Kohlendioxidausstoss von 26 Tonnen pro Jahr kompensiert sie durch den Erwerb von CO2-Zertifikaten. Zum Vergleich: Eine herkömmliche, mit fossilen Brennstoffen betriebene Destillerie ähnlicher Grösse würde zehnmal mehr Emissionen verursachen.
Die erste Flasche Nc’nean Single Malt wurde nach drei Jahren Reifung zu Beginn der Covid-Pandemie abgefüllt. Die ersten zehn Flaschen versteigerte Thomas für eine lokale Wohltätigkeitsorganisation. „Die Welt war damals in einem wirklich schlimmen Zustand, daher wollten wir zuerst der Community etwas zurückgeben“, so Thomas. Ihr Scotch ist fruchtig-frisch, mit würzigen Anklängen und Noten von Aprikose, Zitrus und Pfirsich. Er reift in Rotwein- und Bourbonfässern, was ihm eine elegante Süsse verleiht, wie Experten bezeugen. Thomas trinkt ihren Scotch übrigens am liebsten mit Soda.
Neben Whisky produziert Thomas auch einen Organic Botanical Spirit, der im Laufe vieler Brennexperimente entstanden ist. Der New Make – ein Whisky, der noch nicht gereift ist – wird bei einer zweiten Destillation mit Wacholder, Koriander, Süssholz, Grapefruit, Thymian, Sauerampfer und Heidekraut aromatisiert. Dadurch entsteht ein würziger Whisky-Gin-Hybrid, ideal für Cocktails.
Nicht nur grüner, auch weiblicher will Annabel Thomas ihren Whisky und die gesamte Industrie machen. 17 Menschen arbeiten für ihre Firma, das Verhältnis der Geschlechter ist ausgeglichen. Jedes Jahr veranstaltet Thomas eine Women’s Whisky Week: Dabei lädt sie Frauen ein, alle Aspekte einer Brennerei zu erkunden. Die Hoffnung ist, mehr Frauen für die Branche zu gewinnen, auch als Arbeitskräfte.
Das traditionelle Marketing setzt immer noch auf hypermaskuline und überkommene Motive. Der Cowboy, der nach langem Ritt durch die Prärie die trockene Kehle mit einem Whisky ölt, wird sicherlich keinen Scotch aus den Highlands trinken – dennoch gilt auch das schottische Nationalgetränk als Symbol einer Men’s World. Thomas will hier ebenfalls alte Muster aufbrechen: „Auch beim Marketing könnte sich die Industrie neu orientieren und alte Stereotype für immer begraben“, sagt sie.
Der Absatz des Nc’nean hat stetig zugenommen und wird – wie die gesamte Industrie – auch in den kommenden Jahren zulegen. Derweil besuchen Mitbewerber und Whisky-Liebhaber Thomas’ Vorzeigebetrieb, um sich fortzubilden, darunter auch die Gentlemen der alten Garde: In Tweedjacken und Wellington-Boots spazieren sie skeptisch bis interessiert durch Thomas’ Öko-Destillerie, die mit einem seltenen Gütesiegel für ihre Umwelt- und Ethikstandards ausgezeichnet wurde. Dass sich die Herrschaften (ja, fast immer sind es Männer) ein paar grüne Innovationen abschauen, ist ausdrücklich erwünscht. Für Thomas ist es die Bestätigung, dass ihre Disruption die Branche wirklich verändert – und vielleicht die Klimaziele der schottischen Whisky-Branche eher erreicht werden. Die Unternehmerin ist optimistisch: „Ich denke, der Wandel vollzieht sich schneller als gedacht.“ Und das ist vor allem ihr zu verdanken.
Fotos: Nc’nean