Die Weltraum­-apothekerin

Katie King, Gründerin des britischen Start-ups Bio Orbit, will die Medikamentenherstellung revolutionieren. Dafür sollen die Vorteile der Schwerelosigkeit genutzt und auf Raumstationen Arzneimittel produziert werden. Dies wäre ein bedeutender Erfolg, etwa im Kampf gegen Krebs.

Es ist eine Vision, die nach Science-Fiction klingt: Fliegende Fabriken schweben wie Raumstationen durch die Schwerelosigkeit des Alls, darin produzieren komplexe Apparaturen ein kostbares Serum, füllen es in Kanülen ab und lassen es von Robotern verpacken. Dann fliegen Satelliten die Ware zurück auf die Erde, landen in einer Wüste, und danach dauert es nur noch wenige Stunden, bis das lebensrettende Arzneimittel in einer Klinik, Arztpraxis oder im Haus eines Patienten dem Erkrankten unter die Haut gespritzt wird.

Diese Vorstellung sei weniger futuristisch, als sie klingt, sagt Katie King, 32, Gründerin des Londoner Start-ups Bio Orbit. Vielleicht könnte sie in zehn oder maximal zwanzig Jahren Alltag sein. Denn die Infrastruktur im Weltall und der Zugang zum Orbit entwickeln sich rasant – und das bietet auch der Medizin und der Forschung neue und hochinnovative Möglichkeiten.

In der Krebsforschung gilt die Immuntherapie als eine der vielversprechendsten neuen Methoden zur Bekämpfung von Tumoren. Dabei wird die körpereigene Immunabwehr aktiviert, um die Krebszellen zu beseitigen. Medikamente, die diesen Prozess auslösen, werden meist intravenös verabreicht, also per Tropf ins Blut eingeführt. Das Verfahren dauert lange und muss immer wieder erfolgen. Die Therapie ist für den Patienten schmerzhaft und nur mit Hilfe und unter Aufsicht von Fachpersonal möglich.

Doch es gibt eine Lösung – denn ein wichtiger Bestandteil dieser Medikamente sind Proteine, die kristallisiert werden. Dieser Prozess wäre in der Schwerelosigkeit des Alls viel ein­facher als auf der Erde: Im Orbit können grössere, stabilere und hochwertigere Proteinkristalle hergestellt werden – weil in der Mikrogravitation andere physikalische Bedingungen herrschen. Die Folge: Eine hohe Konzentration eines Wirkstoffs kann in ein kleineres Volumen «gepackt» werden.

Für Patienten und Mediziner hat das mehrere Vorteile: Eine schnelle Injektion zu Hause ist möglich, zeitaufwendige und regelmässige Infu­sionen im Krankenhaus oder beim Arzt sind nicht mehr notwendig – und Arzneimittel­hersteller müssen kristallisierte Proteine nicht tiefgekühlt lagern. Sie nehmen auch weniger Platz ein und bringen somit Einsparungen beim Transport und in der Lieferkette. Das könnte letztlich auch die Umwelt schonen.

Katie King ist eine Pionierin in diesem ­Zukunftsmarkt. «Wir haben ziemlich ehrgeizige Pläne», sagt die Gründerin mit einem Doktortitel in Nanomedizin von der Universität Cambridge. Zusammen mit sechs Mitarbeitern tüftelt King an einem Design für eine Arzneimittel­produktion, die im kommenden Februar zur ­Internationalen Raumstation ISS geschickt werden soll. «Wir sind schon alle sehr gespannt, aber es liegen noch ­einige Nachtschichten vor uns», sagt die Forscherin. Es wäre der erste grosse Meilenstein ­ihrer Vision: Dutzende durch das All schwebende Pharma­fabriken, die unter dem Label Bio Orbit massenhaft kostbare Medikamente produzieren. King steht zwar erst ganz am Anfang, doch sie wurde bereits mit wichtigen Preisen ausgezeichnet, etwa dem Innovator Award der Organisation Everywoman und einem Award als «Top Female Innovator 2024».

Schon als Kind war King vom Weltraum ­fasziniert. Ihr grosser Traum ist es nach wie vor, irgendwann selbst ins All zu reisen, und sie ist ­zuversichtlich, dass dieser Traum in Erfüllung gehen wird. Noch ist es bis dahin aber ein weiter Weg. Erst vor einem Jahr hat sie Bio Orbit gegründet. Sie steht dem Unternehmen als CEO vor, Geldgeber sind die Europäische Raumfahrt­agentur und andere Wagniskapitalgeber, die sich auf Zukunftstechnologien spezialisieren.Der Wert von Kings Start-up wird auf einen ­zweistelligen Mil­lionenbetrag beziffert.

Eine pharmazeutische Produktion im ­Weltraum ist ein neues Geschäftsfeld, in dem wissenschaftliche, medizinische und raumfahrt­technische Kenntnisse und Fähigkeiten verschmelzen. King ist Medizinerin; sie sagt, ihr analytisches Denkvermögen sei ein Vorteil in diesem Feld, das sich gerade erst entwickelt: «Durch das Zusammenspiel von Medizin und Raumfahrt schaffen wir ganz neue Fähigkeiten.»

McKinsey geht davon aus, dass die globale Raumfahrtwirtschaft bis 2035 einen Wert von 1,8 Billionen US-$ haben wird. Aktuell liegt der Wert noch bei 630 Mrd. US-$. Schon 2021 flog Amazon-Gründer Jeff Bezos ins All und machte damit Werbung für Weltraumtourismus, den sein Unternehmen Blue Origin vermögenden Kunden anbietet. 192.500 CHF kosten wenige Minuten Schwerelosigkeit. Auch ein Weltraumhotel ist in Planung.

Bezos’ Rivale Elon Musk lässt aktuell von seinem Unternehmen Space X die ­Mega-Rakete Starship Super Heavy konstruieren. Es wird das grösste und leistungsfähigste Trägersystem der Welt sein. Allerdings ist es bisher erst viermal ­geflogen und nur zwei Starts erreichten den Weltraum. Dabei wurde so viel Hitze und Druck verursacht, dass die Folgen für die Umwelt einem Vulkanausbruch entsprachen. Erde und Sand regneten auf eine nahe gelegene Stadt. Hinzu kommt ein enormer Ausstoss an Schadstoffen.

Jeff Bezos will seinem Konkurrenten das Weltraumbusiness offensichtlich erschweren: Er alarmierte die US-Umweltbehörden und fordert, sie solle Starts von Space X einschränken. Doch unabhängig davon, ob Musks hochfliegende Ambitionen ausgebremst werden können: Sein Satellitenanbieter Starlink gilt als Erfolg – er soll auch künftig schnelles Internet in ent­legene ­Regionen bringen und somit Profite erwirtschaften.

Nicht nur die Tech-Milliardäre investieren massiv in den Weltraum; dennoch sind Jobs, die Biologie, Medizin und Raumfahrt vereinen – zumindest in Grossbritannien –, im Privatsektor rar. Es war daher eher Fügung als ein lang angestrebtes Ziel, dass Katie King Unternehmerin wurde.

Nach ihrer akademischen Karriere versuchte die junge Wissenschaftlerin, im Raumfahrtsektor Fuss zu fassen, doch es gab keine Möglichkeiten. Also nahm King an einem zwei­monatigen Sommerprogramm an der International Space University teil. Diese Kaderschmiede für die neue Generation an Weltraumforschern in Frankreich gab ihr eine neue Perspektive.

King und andere Studenten bekamen die Aufgabe, ein Forschungsthema für den Weltraum zu entwickeln, das eine hohe Relevanz für die Menschheit hat. So entstand die Idee, Proteine in der Schwerelosigkeit zu kristallisieren. King erkannte rasch das kommerzielle Potenzial des Projekts – und gründete ein Jahr später Bio ­Orbit. Die Europäische Weltraumorganisation war ­begeistert und sicherte der jungen Forscherin Gelder und Unterstützung zu.

Kings Gründung ist nicht das einzige Unter­nehmen, das in diesem Zukunftsmarkt mitmischt. Das Pharma- und Raumfahrt-Start-up Varda Space Industries konnte bereits in der Schwere­losigkeit des Weltalls Kristalle für ein HIV-­Medikament herstellen. Diese Mini-Anlage gilt als die erste Medikamenten­fabrik in einer erd­nahen Umlaufbahn. Auch andere Tech-Unternehmen wollen die Möglichkeiten der Mikrogravitation im All zur Arzneimittelforschung nutzen.

Unter ihnen ist unter anderem Spacepharma, das in der Schweiz und Israel beheimatet ist. Das Unternehmen hat ein Mini-Labor für den Weltraum entwickelt. Dadurch lassen sich hohe Kosten für das Mieten von Forschungsraum auf der Internationalen Raumstation ISS und den Transport in Trägerraketen einsparen. Wer etwa eine sechs Kilo schwere Apparatur ins All bringen will, muss rund 30.000 US-$ an Gebühren bezahlen. Hinzu kommt das Risiko eines Schadens an den Trägerraketen nach dem Start.

«Wir nehmen Konzepte, von denen die Leute einst dachten, sie seien blosse Science-Fiction, und verwandeln sie in Realität», sagt Yossi Yamin, Mitbegründer und CEO von Spacepharma. Das Unternehmen mit Sitz in Herzliya, Israel, und einer Niederlassung in Courgenay im Kanton Jura will in der Mikrogravitation zur Anwendung von Stammzellen forschen und auch Impfstoffe im All entwickeln. Auch Spacepharma will irgendwann im grossen Stil Medikamente im Weltraum herstellen. Bis es so weit ist, will das Unternehmen vor allem die Forschung unterstützen.

So hat etwa das Schweizer Life-Science-Unternehmen Cutiss AG, das sich auf haut­regenerative Medizin und Tissue Engineering konzentriert, die Auswirkungen der Raumfahrt auf Hautzellen und Gewebekulturen untersucht. Eine Probe menschlicher Hautzellen wurde mit einem Spacepharma-Minilabor ins All gebracht und an die Elektronik und die Systeme der ISS angeschlossen.

Die Schweizer Forscher können nun auf der Erde per App beobachten, wie sich die Zellen in der Schwerelosigkeit entwickeln und teilen. Die Erkenntnisse sollen bei der Entwicklung von Medikamenten helfen, aber auch ein neues Verständnis für die biologischen Prozesse im menschlichen Körper bringen.

Auch die grossen Pharmakonzerne wie Bristol Myers Squibb und Merck forschen im Weltraum für die Entwicklung und Herstellung von Arzneimitteln. King glaubt dennoch, dass ihr Start-up gut positioniert ist, um in dem Milliardenmarkt eine führende Rolle einzunehmen: Sie ist der Überzeugung, dass grosse Pharmakonzerne langfristig eher auf die Innovationen von agilen Start-ups setzen und mit ihnen als Partner kooperieren werden.

Die Industrie ist längst bereit – allerdings entwickelt sich die Regulierung nicht so rasant wie die Medikamentenforschung im Weltraum. King sagt: «Die Herstellung von Arzneimitteln im Weltraum erfordert eine Übertragung der Vorschriften auf eine Weltraumumgebung. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, dass Patienten auf der Erde von den Vorteilen der im Weltraum produzierten Kristalle profitieren können.»

Der Zugang zur ISS für Experimente ist ­begrenzt und der Wettbewerb, an Bord zu kommen, sehr hart. Die Vorbereitungen für ein Ex­periment dauern oft Jahre. Ausserdem soll die ISS in ­weniger als einem Jahrzehnt aus dem Orbit geholt werden und auf die Erde zurückkehren. Die ersten Module der Raumstation sind seit 1998 im All unterwegs. Es wird also Zeit für eine neue Station, die den Innovationen der Gegenwart gerecht werden kann.

Die zunehmende Kommerzialisierung des Weltraums bedeutet auch, dass die Forschung mehr Möglichkeiten haben wird, um im Orbit zu experimentieren. Musks Space X, Bezos’ Blue Origin und der Rüstungskonzern Northrop Grumman wollen kommerzielle Stationen bauen, um die ISS zu ersetzen. Das dürfte langfristig tiefgreifende Auswirkungen auf die Wissenschaft auf der Erde haben, glauben Forscher.

King meint, es sei schade, dass Geschichten zu Weltraumtourismus zumindest bislang so viel mehr Aufmerksamkeit in den Medien bekommen als spannende Weltraumprojekte der Wissenschaft. «Dabei haben diese Experimente das Potenzial, unser Leben nachhaltig zu verändern.» Gleichzeitig bewundert die Gründerin Elon Musk und seine Ambitionen: «Space X hat alles verändert – nur dank dessen Erfolg können wir nun davon träumen, im Weltall Arznei zu produzieren.»

Bislang hat Katie King ihre Innovationen am Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer ­ausgebrütet. In den kommenden Wochen wird sie mit ­ihrem Team endlich ein Büro im Londoner Viertel King’s Cross beziehen. Ihr Traum ist es zwar, ins All zu fliegen, doch ihre eigentliche Mission hat mit dem irdischen Leben zu tun. Sie sagt: «Der Weltraum und die Möglichkeiten, die er bietet, sollten vor allem den Menschen auf unserem Heimatplaneten zugutekommen.»

Fotos: Christian Trippe, Bio Orbit

Reinhard Keck

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