Die Sprache der Menschen

Die Aufgabe des Aufbaus einer soliden Unter­nehmens­kultur unterscheidet sich anhand des Umstands, ob man es mit 500 Mitarbeitern zu tun hat oder mit 60. Christine Rogers-Raetsch weiss das aus erster Hand: Als Chief People Officer von Duolingo, der beliebtesten Sprach-App der Welt, ist es ihre Aufgabe, die Belegschaft auf 1.000 Mitarbeiter zu vergrössern, ohne die DNA des börsen­notierten Unternehmens aus den Augen zu verlieren.

Im Juli läutete Duolingo die Glocke und begann seinen ersten Handelstag an der Nasdaq als öffentliches Unternehmen. Die Vorbereitungen dafür hatten zehn Jahre gedauert. Das Team (und sein gut wieder­erkennbares Eulenmaskottchen) feierten am Times Square in New York, während die digitalen Wer­betafeln um sie herum hellgrün aufleuchteten. Hinter den Kulissen prüfte Christine Rogers-Raetsch hektisch ihre E-Mails und tippte auf Slack. „Wir haben eine frühe Freigabe für die Mitarbeiter durchgeführt. Das bedeutet, dass wir in den ersten sieben Handels­tagen denjenigen, die bereits über Aktien verfügten, erlaubten, einen Teil davon zu verkaufen“, erklärt Rogers-Raetsch. „Zu diesem Zeitpunkt muss ich buchstäblich Hunderte von Fragen beantworten und dafür sorgen, dass die Trans­aktionen reibungslos ablaufen.“ Sie lacht. „Das ist sinnbildlich dafür, wie es ist, ein Chief People Officer zu sein.“

Für Rogers-Raetsch ist es nicht leicht, eine typische Arbeitswoche zu beschreiben. Als Chief People Officer (CPO) erfüllt sie viele verschiedene Funktionen: Sie kümmert sich um Leistungs­beur­teilungen, betriebliche Sozialleistungen oder sorgt dafür, dass die Mitarbeiter mit ihren Unter­nehmensaktien handeln können. Insgesamt verwaltet sie etwa 500 Mitarbeiter für die weltweit be­liebteste Sprach-App. Das Un­ternehmen, das 2011 von Luis von Ahn (dem Miterfinder von Captcha) und dem Schweizer Informatiker Severin Hacker gegründet wurde, bietet Lektionen mithilfe von Spielen an. In den letzten zehn Jahren hat sich Duolingo zur meistgeladenen Bildungs-App im App Store von Apple entwickelt. Die App bietet 40 Sprachen an, von Suaheli über Dänisch und Koreanisch bis hin zu Hochvalyrisch (der fiktiven Sprache aus der Fernseh­serie „Game of Thrones“). Die beliebtesten Sprachen bei Duolingo sind jedoch Englisch, Spanisch und Französisch.

Das exponentielle Wachs­tum des Unternehmens beruht auf sei­nem Freemium-Modell, das es den Nutzern ermöglicht, die meisten Sprachinhalte der App kostenlos zu nutzen. Dies führt zu einer riesigen Nutzerbasis mit rund 500 Millionen Usern weltweit. Davon haben sich nur 1,9 Millionen Nutzer für die werbefreie Version Duolingo Plus entschieden, aber allein damit wurden im Jahr 2020 Einnahmen von 161,7 Millionen US-$ erzielt. Im Gegensatz dazu setzt der deutsche Konkurrent Babbel auf ein Pre­mium-Abonnementmodell mit zehn Millionen Abonnenten (und machte damit im Jahr 2020 147 Millionen € Um­satz).

Schon vor dem Börsengang befand sich Duolingo in einem Aufwärtstrend. Etwa 30 Millionen Menschen entschieden sich zu Beginn der globalen Gesundheitskrise, als Lockdowns angekündigt wurden, dafür, eine neue Sprache zu lernen – auf Duolingo. Auf dem Papier sahen die Zahlen gut aus, aber im Büro sah es anders aus. „Vor der Pandemie hatten wir eine sehr bürozentrierte Kultur. Die Mit­arbeiter gingen jeden Tag ins Büro, sie assen jeden Tag gemeinsam zu Mittag“, sagt Rogers-Raetsch. „Wir haben also viel davon verloren, während wir unsere Mitarbeiterzahl allein im letzten Jahr massiv – um 75 % – erhöht haben.

Rogers-Raetsch absolvierte ihren Master in Geschichte und ihren MBA an der Villanova University in Pennsylvania. Sie kam 2016 als CPO zu Duolingo.

Um die Arbeitsmoral zu bewahren, überarbeitete das Unternehmen seinen Einführungsprozess, organisierte virtuelle Kaf­feegespräche und gründete sogar Hobbyklubs, um den Kontakt zwischen den Mitarbeitern aufrechtzuerhalten (Rogers-Raetsch trat einem Klub für Fans der Reality-TV-Show „Survivor“ bei). Darüber hinaus ging es aber auch darum, die durch die Krise verschärften Probleme der mentalen Gesundheit anzugehen. „Menschen in ihren vielleicht dunkelsten persönlichen oder beruflichen Stunden zu helfen – das ist eine weitere wichtige Aufgabe, zu der wir in dieser Position oft gerufen werden“, erzählt Rogers-Raetsch.

Christine Rogers-Raetsch kam 2016 zu Duolingo, als das Unternehmen nur etwa 60 Mit­arbeiter hatte. Für die gebürtige US-Amerikanerin, die ihren MBA und Master in Geschichte an der Villanova University in Pennsylvania absolviert hatte und fast zwei Jahrzehnte bei der Vermögens­verwaltungsgesellschaft Vanguard tätig war, war dies ein völlig neues Umfeld. Bei Vanguard war sie abwechselnd als Managerin und Direktorin für vermögende Kunden tätig, bevor sie schliesslich die Position als Global Head of Culture and Inclusion übernahm. „Dort hatte ich die Gelegenheit, mich intensiver mit den Themen Unternehmenskultur, Engagement und Vielfalt zu beschäftigen und eine Brücke zu dieser Rolle bei Duolingo zu schlagen“, schildert Rogers-­Raetsch. Ihre ersten sechs Wochen bei dem Bildungs-Start-up in Pittsburgh verbrachte sie damit, mit jedem einzelnen Mitarbeiter zu sprechen. „Wenn Sie eine Sache ändern könnten, was wäre das? Was denken Sie, muss ich über Duolingo wissen?“, so ihre damaligen Fragen.

Ihr Leitsatz für das Pflegen einer starken Unternehmenskultur hat sich mit dem explosiven Wachstum des Unternehmens verändert, aber die Kriterien sind die gleichen geblieben: Talentgewinnung, Mitarbeiterengagement und Mitarbeiterbindung. „Auf diesem unglaublich wettbewerbsintensiven Talentmarkt muss man wirklich ganzheitlich darüber nachdenken, was nötig ist, um die weltbesten Talente anzuziehen und sie dann hier zu halten“, erklärt Rogers-­Raetsch. „Das geht weit über Ge­haltsabrechnung, Sozialleistungen und Vergütung hinaus. Es geht auch um Kultur, Umwelt, Engagement und Vielfalt. Das ist das Unter­scheidungsmerkmal auf dem Markt.“

Dennoch räumt sie ein, dass Duolingo an verschiedenen Fronten noch hinterherhinkt. „Wir sind noch nicht da, wo wir sein wollen, was unsere Bipoc-Population (Anm.: Schwarze, Indigene, People of Color) angeht“, sagt sie. „Der Anteil schwarzer Mitarbeiter bei Duolingo ist offen gesagt immer noch zu gering.“ Ein weiterer Schwerpunkt ist der Anteil von Frauen, die derzeit 40 % der Belegschaft und 33 % der Geschäftsleitung ausmachen.

Als börsennotiertes Unter­nehmen hat sich Duolingo bereits das Ziel gesetzt, seine Belegschaft auf 1.000 Mitarbeiter zu verdoppeln. Rogers-Raetsch scherzt gerne: „Mehr Leute, mehr Probleme!“ Und vieles ist hier in der Pipeline: Duolingo führt einen Familienplan für seine Premiumversion ein und fügt gefährdete Sprachen wie Zulu, Xhosa und Maori hinzu. Im kommenden Jahr wird auch eine neue Mathe-App für Kinder veröffentlicht. Die Veränderungen signali­sieren kontinuierliches Wachstum und Expansion mit neuen Büros in Berlin und Peking. Wir fragen uns, ob sie bei all dem, was sie tut, noch Zeit für Duolingo-Unterricht hat? An dieser Stelle lacht sie und sagt schuldbewusst: „Das können Sie mich nicht fragen!“

Text: Olivia Chang
Fotos: Justin Merriman

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 8–21 zum Thema „Women“.

Olivia Chang,
Redakteurin

Up to Date

Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.