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Die Nutzung sensibler Daten blieb Unternehmen und Forschern bislang weitgehend verwehrt. Das Wiener Start-up Mostly AI löst das Problem und erzeugt mittels KI-Technologie datenschutzkonforme künstliche Werte.
Jede Innovation hat ihre Zeit. Und wenn man Michael Platzer Glauben schenken darf, ist diese Zeit für synthetische Daten nun gekommen. „Viele Organisationen wurden erst durch die Coronavirus-Pandemie auf die Notwendigkeit und Chance von Datenanonymisierung aufmerksam. Wir waren hier weltweit eines der ersten Unternehmen mit einer derartigen Technologie am Markt“, sagt Platzer, Gründer und Chief Strategy Officer (CSO) der Firma Mostly AI Solutions MP GmbH.
Der Kampf der Medizin gegen Covid-19 verlief von Anfang an nicht nur physisch in Krankenhäusern und Labors, sondern vor allem auch digital. Die Kombination zeigte sich auf verschiedenen Ebenen, etwa bei der Erhebung, Verarbeitung und Analyse von Patientendaten und der grenzüberschreitenden Nutzung selbiger in der globalen Forschung für einen Impfstoff. Auch zur Identifizierung von Infektionsketten werden Mobilitätsdaten der Bevölkerung via Handy-Apps erhoben. Dabei wird natürlich stets vorausgesetzt, dass das dazu nötige Contact-Tracing – also die Nachverfolgung von Kontakten zwischen Menschen – anonym, dezentral und unter Zustimmung der Nutzer erfolgt. Denn trotz des Krisenzustands spielt ein hochsensibles Thema massiv in die Massnahmen hinein: der Datenschutz. Nur mit anonymen Daten können Unternehmen frei agieren, für die Speicherung und Weiterverarbeitung personenbezogener Daten benötigen sie in der Europäischen Union laut der 2018 in Kraft getretenen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) die Zustimmung der Verbraucher.
Michael Platzer
... promovierte an der Wirtschaftsuniversität Wien in Marketing Science und war von 2014 bis 2016 als Data Scientist bei Microsoft tätig, bevor er 2017 mit Mostly AI eine synthetische Datenplattform gründete.
Eine Hürde, die Platzer mit Mostly AI überwinden will: „Datenschutz und die Nutzung personenbezogener Daten müssen kein Widerspruch sein. Wir ermöglichen es Unternehmen und staatlichen Institutionen, mit diesen Daten zu arbeiten, ohne Gesetze zu verletzen und ohne die Privatsphäre Einzelner zu gefährden.“ Der Mathematiker und Ökonom gründete Mostly AI gemeinsam mit Klaudius Kalcher und Roland Boubela, beides medizinische Physiker. Das Wiener Start-up erzeugt mittels KI-Technologie aus Standortdaten von Mobilitätsdiensten, Retail-Kundendaten oder Transaktionsinformationen von Bankkonten sogenannte synthetische Daten und gibt Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen den Schlüssel für massgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen. Mittels künstlicher Intelligenz (KI) können darüber hinaus völlig neue Datenpopulationen kreiert werden. Unternehmen wie der Tech-Riese Microsoft, die österreichische Erste Bank oder der spanische Telekomanbieter Telefónica zählen zu den Kunden von Mostly AI. Seit Beginn der Coronakrise verzeichnen die KI-Spezialisten aber auch verstärkt Anfragen aus dem internationalen Gesundheitssektor.
Als das Unternehmen 2017 an den Start ging, war Datenschutz unter Softwarespezialisten das beherrschende Thema. Die europäische DSGVO war bereits beschlossen, aber noch nicht in Kraft. Die Initialzündung brachte dann aber die KI-Konferenz in Wien, die Platzer – früher Data Scientist bei Microsoft – organisierte. „Es gab viel Aufmerksamkeit für synthetische Bilder, die mit künstlicher Intelligenz erzeugt werden. Uns wurde rasch klar, dass die Lösung des Datenschutzdilemmas in diesen selbstlernenden Algorithmen liegt“, so Platzer. In den folgenden Monaten entwickelten die drei PhD-Absolventen in einem forschungsintensiven Prozess ihre Kerntechnologie, die aus einem Originaldatensatz ein künstliches Abbild erstellt. Basis der Entwicklung waren Platzers Forschungsarbeiten zur Simulation von Kundenverhalten an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie die Expertise von Kalcher und Boubela in der Modellierung grosser Datenmengen aus der medizinischen Forschung. Mostly AI hat die KI-basierende Datensynthetisierung weiterentwickelt und für personenbezogene Datensätze anwendbar gemacht; Endprodukt ist eine leistungsfähige Synthetisierungssoftware. Die Technologie überführt die Informationen realer Nutzer in eine Gruppe an künstlichen Personen – die statistischen Zusammenhänge bleiben erhalten, individuelle Merkmale nicht. Eine Zuordnung zu Personen ist somit im Nachhinein nicht mehr möglich – trotz identer Aussagekraft der Daten für Forschung und Unternehmen.
„Unsere Software ist für die Kunden einfach zu bedienen. Sie geben ihre Datensätze ein und bekommen eine beliebige Anzahl an synthetischen Datensätzen wieder zurück. Dazu erhalten sie noch einen automatisch erstellten Prüfbericht über die Qualität und die Anonymität der erzeugten Daten“, erklärt Platzer. Den Datenschutz der synthetischen Daten und damit die Qualität ihrer Lösung bestätigt das EU-Datenschutz-Gütesiegel der deutschen Zertifizierungsfirma ePrivacy GmbH. „Wir schliessen gerade ein weiteres technisches und juristisches Gutachten in Zusammenarbeit mit der Kanzlei Baker McKenzie ab, das auf die USA und Japan abzielt“, so Platzer.
Kein Risiko ging das Gründertrio auch bei der Finanzierung ein: Das erste eigene Geld verdiente sich Mostly AI mit Beratungsleistungen. Erst nach dem ersten erfolgreichen Kundenprojekt im Jahr 2018 warben Platzer und sein Team um Fremdkapital. Letztendlich holte Mostly AI den Münchner Venture-Capital-Fonds 42 Cap und das österreichische VC-Unternehmen Push Ventures an Bord. Der Erfolg war jedoch kein Selbstläufer: „Anfangs mussten wir noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Mittlerweile wird das Potenzial aber auf breiter Ebene erkannt, vor allem in Branchen mit Innovationsdruck, in denen Datenschutz seit jeher einen hohen Stellenwert geniesst“, so Platzer. Ihre Botschaft ist offenbar auch in den USA angekommen: 2019 eröffnete Mostly AI ein Büro in New York – dort stehen die Österreicher aktuell mit mehreren Finanzhäusern in Verhandlungen. Mostly AI wurde als potenzieller Lieferant für Datenanonymisierung ausgewählt, die Evaluierungen laufen. „Wenn US-Banken unsere Technologie beziehen wollen, ist das ein schöner Beleg für unseren technischen Vorsprung. Es zeigt aber auch die Vorreiterrolle Europas in Sachen Datenschutz“, sagt Platzer. Angst vor Konkurrenz haben die IT-Spezialisten nicht, sie vertrauen gemäss Best-Practice-Anspruch ihrem Produkt. „Wir zielen nicht darauf ab, unseren Technologievorsprung im Markt zu verteidigen, sondern diesen durch starke Investitionen in Forschung und Entwicklung weiter auszubauen“, sagt Platzer.
Um das zu schaffen, hat Mostly AI erneut Investoren angelockt. Zu Jahresbeginn nahm das Unternehmen fünf Millionen US-$ von den Bestandsinvestoren ein, hinzu kam der Berliner Risikokapitalinvestor Earlybird. Der Fokus soll fortan auf Automatisierung und Skalierung des Geschäfts liegen. Jüngst hat das Team an einem Software-as-a-Service-Modell (SaaS) seiner Technologie gearbeitet, das im dritten Quartal 2020 auf den Markt kommen soll. „Mit dem künftigen SaaS-Angebot adressieren wir ein breiteres Publikum und ermöglichen mehr Kunden, unsere Technologie zu testen und zu nutzen“, so Platzer. Neben dem deutschsprachigen Raum will Mostly AI künftig das Geschäft in Grossbritannien, Spanien und Nordeuropa forcieren. Bis Jahresende soll das Team auf 30 Personen wachsen. Um dem Firmenwachstum gerecht zu werden, hat sich das Management jüngst neu aufgestellt – Platzer hat die CEO-Position an den früheren COO Tobias Hahn abgegeben. Fortan will Platzer sich als Chief Strategy Officer vor allem auf die Strategie konzentrieren. Und die soll auch in Zukunft auf Innovationskraft fussen.
Text: Christiane Kaiser-Neubauer
Foto: Mostly AI
Der Artikel ist in unserer Juni-Ausgabe 2020 „Next“ erschienen.