Die Bienenkönigin

Wie Whitney Wolfe Herd mit ihrer Dating-App Bumble einen gesättigten Markt erobert.

Als Whitney Wolfe Herd eine Launch-Party für Bumble plante, suchte sie sich die Location für den Anlass ganz bewusst aus: Es sollte jener Ort sein, der 57 Jahre lang als Four Seasons Restaurant in Manhattan bekannt war. Stammgäste wie der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger, Bürgerrechts­aktivist Vernon Jordan, Milliardär Edgar Bronfman und der Chef des Finanzriesen Blackstone, Stephen Schwarzman, hatten das Lokal zu einem Ort für Geschäftsessen der Mächtigen gemacht.

Das Restaurant steht heute unter neuer Führung, hat einen neuen Namen und eine überarbeitete Speise­karte. Und, wie Herd betont, eine neue Perspektive auf die Geschäftswelt. „Geschäftsessen sind heutzutage nicht mehr nur für Männer“, sagt Herd zu ihrem mehrheitlich jungen, mehrheitlich weiblichen Publikum, bevor sie die Bühne an die „The Black Eyed Peas“-Frontfrau Fergie übergibt. „Auch wir sitzen mittlerweile am Tisch.“

An jenem metaphorischen Tisch sitzt definitiv auch die 28-jährige Herd, die massgeblich daran beteiligt ist, dass sich die digitale Datingwelt gerade verändert. Dabei hatte die von ihr begründete App Bumble mit einem einfachen Feature Erfolg: Frauen machen den ersten Schritt. Bei einem Match, wenn also zwei Nutzer einander ­positiv bewerten, müssen die Frauen die Männer anschreiben.

Das zieht: Heute hat Bumble 22 Millionen registrierte Nutzer – gegenüber Tinders 46 Millionen. Doch Bumbles Kundenbasis wuchs im Vergleich zum Vorjahr um rund 70 Prozent, Tinders lediglich um zehn Prozent – der Vorsprung des Platzhirschs schmilzt. Bumble monetarisiert die App zudem seit August 2016 über In-App-Käufe, die Umsätze werden 2017 rund 100 Millionen US-$ betragen. Hinzu kommen nun auch Erlöse aus personalisierter, standortbasierter Werbung, wodurch sich die Umsätze 2018 ver­doppeln könnten.

Herd lehnte laut Insiderquellen kürzlich ein 450 Millionen US-$ schweres Angebot der Tinder-Mutter Match Group ab. Doch Match gibt nicht auf und will ein neues Angebot legen. Bumbles Bewertung soll dabei eine Milliarde US-$ ­betragen. Herds 20-Prozent-Anteil am Unter­nehmen wäre somit rund 200 Millionen US-$ wert. Match Group wollte die Behauptungen nicht kommentieren.

Herds Comeback ist ­erstaunlich. Als Mitgründerin und Marketing­chefin von Tinder prägte sie jene App, die das Datingleben von Millionen von Menschen grundlegend veränderte. Damit war Herd auch Teil eines der grössten Geschäfts­erfolge im Smartphone-Zeitalter. Doch dann fand sich Herd mitten in einer heute nicht unüblichen Problemlage wieder: Sie verklagte Tinder wegen sexueller Belästigung. Der Vorwurf, den Herd im Juni 2014 äusserte, war, dass ihr früherer Chef und Freund Justin Mateen sie „Hure“ und „Gold Digger“ (abwertender Begriff für eine Frau, die bei Männern nur auf Geld aus ist, Anm.) genannt und per SMS wiederholt bedroht und beleidigt habe. Ihren SMS-Verlauf hängte sie der Klage an. Zudem warf sie Tinder vor, zu Unrecht von ihrem Titel als Mitgründerin entbunden worden zu sein.

Das Unternehmen bestritt die Vorwürfe zwar, doch Mateen wurde dennoch suspendiert und kündigte anschliessend. Sean Rad, damals noch Tinder-CEO, sagte 2014 zu Forbes, Herd habe eine Teilschuld an dem schlechten Verhältnis zu Mateen gehabt. Der Prozess endete in einem Vergleich, Forbes schätzt die Summe auf eine Million US-$.

Bei Bumble gibt es hingegen keine zwei Meinungen, wer die Gründerin ist. Statt über Tinder herzuziehen, entschloss sich Herd, einen Wettbewerber aufzubauen. Damit betrat sie, und das reichlich spät, einen der gesättigtsten digitalen Märkte überhaupt – mehr als 90 Prozent aller Dating-Start-ups scheitern. Doch Herd hatte Erfolg, indem sie ein lukratives Segment besetzte: Frauen

Mehr als zehn Prozent aller Bumble-User zahlen 9,99 US-$ für ein monatliches Abo, das zusätzliche Möglichkeiten bietet, etwa Extra­bedenkzeit, ob man einem Match nun eine Nachricht schicken will oder nicht. Bei Tinder zahlen laut einem Bericht des Finanzunternehmens Jefferies nur etwa rund fünf Prozent aller User für ein ähnliches Service. Dass Herds Segment die Mehrheit der US-Bevölkerung ausmacht, hilft dabei natürlich.

„Ich hege keinen Groll gegen irgendetwas oder irgendjemanden. Dazu habe ich zu viel zu tun“, sagt Herd. Wenn Erfolg die beste Rache ist, dann muss Bumbles Entwicklung Genugtuung pur für Herd sein.

Dabei kam ihr Weg dorthin eigentlich völlig ungeplant. In den Monaten zwischen ihrer Klage und dem Vergleich erfuhr sie online jenen Hass, den Frauen in ähnlichen Situationen nur zu gut kennen. „Mir wurden von Fremden die schlimmsten Dinge an den Kopf geworfen“, so Herd. „Ich war in keinem Wahlkampf tätig, wollte nicht an einer Realityshow teilnehmen. Ich war einfach nur eine Frau, die ihren Job gekündigt hatte.“

Als die Attacken sich in Verge­waltigungs- und ­Morddrohungen von Fremden verwandelten, löschte die Unternehmerin ihren Twitter-­Account. Sie litt an Panikattacken und Paranoia. Die aus Salt Lake City stammende Herd hatte eine Privatschule besucht und gehört zur dritten Generation ihrer Familie, die die Southern Methodist University in Dallas besuchte. Sie zog sich damals nach Texas zurück und verbrachte Zeit mit der Familie ihres Freundes Michael Herd, der heute ihr Ehemann ist.

„Ich war kaputt“, sagt sie. Um aus diesem Albtraum jedoch etwas Sinnvolles zu machen, begann sie, an einem sozialen Netzwerk zu arbeiten, das exklusiv für Frauen funktionieren sollte. Sie nannte es Merci und wollte sich damit auf positive Energie fokussieren. „Ich wollte keine Komplimente über das Erscheinungsbild, sondern Komplimente zum Charakter der Frauen fördern.“

Doch dann erhielt sie eine unerwartete E-Mail von einer ihr unbekannten Adresse mit ­einem russischen Namen – Andrey Andreev. Der in Moskau geborene Andreev, der in London lebt, hatte 2006 Badoo gegründet. Badoo ist ein Online-Dating-Netzwerk, das heute mit über 260 Millionen registrierten Nutzern in 190 Ländern das grösste seiner Art ist. Die beiden hatten sich 2003 bei einem Abendessen kennenge­lernt, als Herd noch bei Tinder tätig war – sie hinterliess einen guten Eindruck. „Ich verliebte mich sofort in Whitneys Leidenschaft und Energie“, sagt Andreev, der mit seinem starken Akzent dafür bekannt ist, kaum ­Interviews zu geben. „Ich dachte, sie ist eine coole Frau. Ich wollte sie im Auge behalten.“ Als Herd nicht auf seine E-Mail antwortete, schrieb Andreevs Team Herds Anwälten – um ihr Glück für den Prozess zu wünschen und sein Interesse an einer Zusammenarbeit zu deponieren. „Ich wollte sie eigentlich als CMO zu Badoo holen“, so der 43-Jährige.

Herd plante zu diesem Zeitpunkt eine Reise nach Paris, wo ihre Schwester eine Kochschule besuchte – und machte einen Abstecher nach London. Sie wollte das Job­angebot nicht. „Träum weiter. Ich bin nicht verfügbar“, sagte sie zu Andreev. „Ich gründe ein Unternehmen, ich will nicht in die DatingBranche.“

Sie pitchte ihm jedoch ihre Idee für Merci. Dem Russen gefiel die Idee, eine Marke zu haben, die sich auf Frauen fokussierte. Doch er fand, Herd sollte in ihrem Spezialgebiet bleiben – Dating. Die beiden spazierten tagelang durch London und tauschten sich über Ideen aus. Andreev wollte Herds angeborenes Talent für Marketing und ­Branding mit den Ressourcen und der Infra­struktur von Badoo verbinden – obwohl er bereits seit zehn Jahren nicht mehr dort arbeitete.

Nachdem ihr Tinder-Prozess beendet war – der Vergleich enthielt praktischerweise keine Konkurrenz­klausel –, akzeptierte Herd das Angebot: Andreev würde rund zehn Millionen US-$ investieren, zusätzliches Wachstumskapital zur Verfügung stellen und im Gegenzug rund 79 Prozent der Anteile bekommen. Herd würde als CEO und Gründerin agieren und 20 Prozent der Anteile bekommen – bei völliger unternehmerischer Eigenständigkeit. Zudem durfte sie Badoos Ressourcen und Andreevs Know-how nutzen. Beide Quellen zahlten sich aus: Badoo hat ein Jahrzehnt voller Daten und Tests sowie Untersuchungen über die ­Effektivität von Monetarisierungsstrategien im Dating-Bereich. Zudem weiss Andreev, wie man ein Produkt hochskaliert, das mit seinem Design alleine am Markt ist.

Als es etwa so weit war, In-App-Käufe einzuführen, konnte Bumble ausgeklügelte Technologien einsetzen, die auf Badoos Erkenntnissen aufbauten. Von September bis Dezember 2014 flog Herd 15-mal von Texas nach London. Sie und Andreev holten zwei frühere Tinder-­Mitarbeiter – Chris Gul­czynski und Sarah Mick – an Bord, die das Backend und das Interface der App designten; beide ­verliessen Bumble übrigens im April 2017, um eine Agentur zu gründen, halten zusammen aber noch immer das eine Prozent der Anteile, das Andreev und Herd nicht besitzen.

Eines Abends entdeckte Herd dann bei einem Cocktail Bumbles „geheime Zutat“: „Ich wollte immer, dass ein Typ meine Nummer nicht hat, ich aber seine“, sagte sie damals zu Andreev. „Was, wenn Frauen den ersten Schritt machen, die erste Nachricht schicken? Und sollten sie es nicht tun, verschwindet der Match nach 24 Stunden wieder – wie Aschenputtels Kutsche. Die Frau fragt zuerst. Was, wenn wir das in ein Produkt einflechten"?

Es war einer dieser genialen Einfälle, die nur Menschen kommen, die ihre Zielgruppe gut verstehen, weil sie ihr selbst angehören. Die zwei spielten eine Zeit lang mit Namen herum, bevor sie sich auf Bumble einigten – und setzten darauf, dass Brandingmassnahmen rund um Bienenstöcke und die Tiere einschlagen („to bumble“ bedeutet „summen“).

Die App ging im Dezember 2014 online und hatte im ersten Monat bereits 100.000 Downloads. „Die Frauen hatten geradezu darauf gewartet“, sagt Dave Evans, ein Berater, der Hunderte schlechte Erfahrungen von Frauen auf Dating-Apps gesammelt hat. „Frauen haben seit Jahren Angst".

Es ist brütend heiss rund um Bumbles neues Hauptquartier, das in einer Wohngegend in Austin, Texas, liegt. Die Hitze hält die Passanten jedoch nicht davon ab, das Gebäude eingehend zu studieren. Für die Eröffnung haben Künstler am ganzen Gebäude übergrosse Luftballons angebracht – das Ganze sieht aus wie ein grosser, runder Kaugummi­automat. Die Passanten machen Selfies vor dem Haus, Autos bleiben stehen, ihre Fahrer erkundigen sich danach, welches Unternehmen denn hier einzieht. Bumble macht selbst Banalitäten wie einen innerstädtischen Umzug zu einer Marketingmöglichkeit.

Bumble hat 70 Mitarbeiter, wovon rund 85 Prozent weiblich sind. Auch alle höheren Positionen im Unternehmen werden von Frauen bekleidet – Andreev ausgenommen. Das neue Gebäude repräsentiert ebendas, mit Postern und Neonschildern, die unternehmensinterne Slogans zeigen. „Du bist die Bienen­königin“, „Sei jener CEO, von dem deine Eltern immer wollten, dass du ihn heiratest“ oder „Mach den ersten Schritt“. Bumble verteilt Pullover und Geschenke bei Events – mit dem bekannten, einer Bienenwabe ähnlichen Logo mit dem Schriftzug „Honey“. „Es ist ein Gefühl von Empowerment, stolz auf ein Service zu sein, für das man arbeitet“, so Evans. „Wenn ich ein T-Shirt von Adult­FriendFinder tragen würde, wäre das etwas anderes.“

Das Bienenmotto und die ­Farbe Gelb sind auch in Bumbles App überall präsent. Die funktioniert folgendermassen: Wenn zwei Nutzer unterschiedlichen Geschlechts matchen, indem sie beide auf dem Profil des jeweils anderen nach rechts wischen, muss die Frau ihrer potenziellen Verabredung als Erste eine Nachricht schicken – sonst wird die Verbindung ungültig. Indem Frauen bei Bumble die Macht über den Erstkontakt besitzen, fühlt sich die App freundlicher und abgegrenzter an als ihre Konkurrenten, wo es oft vor unerwünschten Fotos – etwa von männlichen Genitalien – nur so wimmelt. Letztes Jahr führte Bumble etwa ein Verbot für Selfies mit nacktem Oberkörper (wie man sie in männlichen Tinder-Profilen oft findet) ein. Das waren jene Fotos, die am öftesten abgelehnt wurden. Das heisst nicht, dass Bumble jegliche Belästigung unterbinden kann, doch sie wird zumindest deutlich reduziert.

Dieses stärker kontrollierte Um­feld hat sich in überraschenden Durchbrüchen niedergeschlagen. Hunderttausende Nutzerinnen gaben in ihren Profilen an, dass sie nicht nur nach Liebe suchen ­würden: Ihnen wären auch Freundschaften und ihre Karriere wichtig. Daher wurden zwei Bumble-Spin-offs gegründet: BFF, eine Plattform, die auf platonische Beziehungen zwischen Frauen abzielt, und Bizz, ein Konkurrent zu Linked­In, das das gleiche Interface wie Bumble hat und Frauen ebenfalls in den Vordergrund stellt. „Wir beseitigen den Sexismus, der beim Networking immer wieder vorkommt“, sagt Herd. „Wir denken, das könnte klappen.“

Doch der Erfolg der Tochter-Apps war bisher bescheiden. Bumble BFF wurde zwar von drei Millionen Nutzern ausprobiert, hat aber nur 500.000, die innerhalb eines Monats in der App aktiv sind. Bumble Bizz ist noch zu jung, um eine ernsthafte Evaluierung anzustellen. Doch mit seinem Fokus auf Frauen hat es ein riesiges Potenzial: „Bereits Tests in dieser Grössenordnung durchführen zu können ist ein Vorteil, den die meisten Start-ups nicht haben. Bumble kann ab dem allerersten Tag ein Netzwerk nutzen, das bereits Millionen von Kunden hat“, sagt Evans.

Natürlich gibt es zumindest noch eine andere Dating-App, die ­solche Dimensionen – und reichlich Männer und Frauen – hat, um in solche Nischen vorzudringen. Sean Rad, der bei Tinder die Mergers-&-­Acquisitions-Abteilung Swipe Ventures leitet, wollte zu diesem Artikel jedoch keinen Kommentar abgeben. Auch Justin Mateen war nicht erreichbar.

Doch das Unternehmen verfolgt Bumble offensichtlich genau: 2016 expandierte Tinder ebenfalls in Richtung platonischer Beziehungen, indem es in das Netzwerk Hey! Vina investierte, dass sich auf weibliche Freundschaften konzentriert. Und dann gibt es natürlich noch das grosse Interesse von Tinder-Mutter Match Group – dem grössten Player in der Online-Dating-Branche in den USA. Das börsennotierte Unter­nehmen, das neben Tinder auch Match.com, OkCupid, PlentyofFish und andere Nischenanbieter besitzt, will Bumble unbedingt unter sein Dach holen.

„Match hatte Glück, weil sie 45 verschiedene Marken besitzen“, so Brent Thill, der für das Finanzunternehmen Jefferies den Dating-App-Markt beobachtet. „Doch die Marke, die heute die ganze Aufmerksamkeit bekommt, gehört nicht ihnen.“

Herd wollte die ­Kaufangebote nicht kommentieren, doch ein Verkauf an Tinders Mutterunternehmen und eine Vereinigung unter dem gleichen Dach wäre hollywood­reif. Und tatsächlich fanden sich unter den Gästen der Hauptquartier­eröffnung Vertreter eines grossen Filmstudios, das einen Film aus Herds Geschichte machen will. Es sei, so Herd lachend, ja wirklich eine ziemlich gute Story.

Text: Clare O’Conner
Übersetzung: Klaus Fiala

Dieser Artikel ist in unserer Dezember-Ausgabe 2017 „Kapitalismus“ erschienen.

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