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In einem kleinen Bündner Dorf führt Andreas Caminada eines der besten Restaurants Europas – und ein Unternehmen, das mit leiser Konsequenz gewachsen ist. Was vor 20 Jahren und mit vier Mitarbeitern begann, ist heute eine Gruppe mit 150 Angestellten, mehreren Konzepten, drei Michelin-Sternen und einem Umsatz im zweistelligen Millionenbereich. Zu Besuch im «Caminada-Kosmos».

Fürstenau, ein 350-Seelen-Dorf in den Bündner Bergen. Kein Ort, an dem man ein kulinarisches Weltwunder vermuten würde – doch hier, hinter dicken Steinmauern und ohne gestärkte Tischdecken, hat Andreas Caminada etwas gebaut, das die Regeln der Spitzengastronomie auf den Kopf stellt. «Willkommen in meinem kleinen Kosmos», sagt er, als er uns auf Schloss Schauenstein empfängt – in bequemer Kleidung; kein weisses Jackett, kein steifer Kragen. Statt Förmlichkeit: Stille, Holz, Wärme. Und eine Küche, die man nicht mehr vergisst.
Seit über 20 Jahren prägt Caminada die Schweizer Gastronomieszene – nicht durch Lautstärke, sondern durch Konsequenz. Was 2003 mit einem heruntergekommenen Schloss und vier Mitarbeitenden begann, ist heute ein Unternehmen mit rund 150 Angestellten, drei Michelin-Sternen, mehreren Restaurantmarken und einem Jahresumsatz im zweistelligen Millionenbereich. Caminadas Erfolgsmodell: Individualität statt Expansion, Verantwortung statt Kontrolle, Qualität statt Show. In einer Branche, die ums wirtschaftliche Überleben kämpft, ist die Caminada-Gruppe ein stabiles Gegenmodell, dessen Wirkung weit über Fürstenau hinausgeht.

Dabei ist Fürstenau für Caminada nicht nur Bühne, sondern Auftrag. Schloss Schauenstein wurde zum Anker für eine ganze Region – touristisch, wirtschaftlich, kulturell. Lieferanten aus dem Tal, Handwerker aus dem Dorf, Gäste aus aller Welt: Caminadas Arbeit hat dem Ort neue Sichtbarkeit verliehen, ohne dessen Identität zu verbiegen. Er spricht nicht von «Standort», sondern von Heimat.
Alles an diesem Ort widerspricht der klassischen Vorstellung von Elitegastronomie: eine schlichte Einrichtung, keine ausgefallene Inszenierung. Caminada wollte nie «nur» Sternekoch sein. «Ich wusste immer, ich will das ein bisschen anders machen. Ich will diese Steifheit rausbringen. Es soll ja Spass machen», sagt der 47-Jährige. Doch dieser «Spass» hat ihm drei Michelin-Sterne, 19 Gault-Millau-Punkte und internationale Auszeichnungen eingebracht. Wie bringt man diesen Spagat zustande – zwischen Weltklasse und Bodenständigkeit, zwischen Imperium und Authentizität? Und wie bleibt man Koch, wenn der Alltag längst aus Meetings, Strategiegesprächen und Teamrunden besteht?

Als Andreas Caminada zum ersten Mal durch das eiserne Tor von Schloss Schauenstein trat, war er 26 Jahre alt. Die Fenster blind, die Gemäuer still – Fürstenau, das Städtchen, in dem sich das Schloss befindet, wirkte damals wie aus der Zeit gefallen. «Wer kommt denn da hin?», fragte er sich. Trotzdem sagte sein Bauchgefühl: Hier! 2003 übernahm er das leer stehende Schloss gemeinsam mit seiner damaligen Partnerin. Kein Investor, kein Konzeptpapier, nur vier Mitarbeitende und ein klares Ziel: einen eigenen Ort schaffen. Die ersten Jahre waren hart: Gäste kamen – aber niemand wusste, ob sie wiederkommen würden. Zwischen Küchenpass und Gästezimmer zählten zwei Dinge: Qualität und Kontrolle. «Wenn die Tür aufging, waren wir eigentlich schon blank», erinnert sich Caminada.
Doch der Erfolg liess nicht lange auf sich warten. Bereits im zweiten Jahr wurde Caminada vom Gault-Millau zur «Entdeckung des Jahres» gekürt. Im selben Jahr folgte der erste Michelin-Stern, 2006 der zweite, 2010 der dritte. Aus dem Schloss entwickelte sich ein lebendiges, wachsendes Ökosystem. Neben dem Fine-Dining-Restaurant entstanden das gutbürgerliche Gasthaus «Casa Caminada», das vegetarische Konzeptrestaurant «Oz» sowie eine eigene Landwirtschaft. Hinzu kamen das Sharing-Dining-Konzept «Igniv» (mit Standorten in Zürich, Bad Ragaz, Andermatt und Bangkok), ein eigener Verlag, ein Magazin und die 2015 gegründete Stiftung Fundaziun Uccelin, die junge kulinarische Talente weltweit fördert.
Wachstum war dabei nie Ziel, sondern Folge. «Wir wollten keinen Gourmettempel. Wir wollten einen Ort des Genusses für alle Sinne», sagt Caminada. Talente aus den eigenen Reihen wurden gefördert, nicht nur angelernt. «Unsere Leute stehen vorne», sagt er – und meint damit: Die nächste Generation übernimmt.
Ein Paradebeispiel dafür ist Silvio Germann. 2012 kam er als junger Koch nach Fürstenau, wurde drei Jahre später Küchenchef im neu eröffneten «Igniv» in Bad Ragaz und erkochte dort innerhalb weniger Jahre zwei Michelin-Sterne. Heute führt er das Restaurant «Mammertsberg» im Thurgau – eigenständig, mit seiner eigenen Handschrift. «Ich will ja nicht vor der Sonne stehen», sagt Caminada. Es ist genau diese Balance aus Vertrauen und Freiheit, aus Struktur und Selbstverwirklichung, die seine Gruppe prägt.
Heute beschäftigt die Caminada-Gruppe rund 150 Mitarbeitende und erwirtschaftet laut Medienberichten einen Jahresumsatz im zweistelligen Millionenbereich. Die Restaurants tragen internationale Namen, doch der Kern ist geblieben: Fürstenau. «Das Schloss ist unser Zuhause, unser Ursprung – aber es darf sich bewegen», sagt Caminada.

Bewegung kam vor allem durch eine strategische Partnerschaft mit der Schweizer Unternehmensgruppe The Living Circle, zu der unter anderem das Hotel Storchen in Zürich gehört. Gemeinsam mit dem Unternehmer Gratian Anda kaufte Caminada Schloss Schauenstein, The Living Circle ist zudem mit einer Minderheitsbeteiligung an der Caminada Group beteiligt. «Ich wollte sicherstellen, dass dieser Ort weitergeführt wird, auch wenn mal etwas passiert», sagt Caminada. Der Deal war kein Ausstieg, sondern ein Schritt in die Zukunft – mit geteiltem Eigentum, aber klarer operativer Führung durch Caminada und seine Frau Sarah.
Während Andreas visioniert, kalkuliert Sarah: Als CFO und Co-CEO behält sie die Zahlen im Blick, prüft jede Investition, kontrolliert die Budgets. «Man muss seine Kosten spüren», sagt Caminada. Ihr Zusammenspiel ist leise, aber effektiv – und ein wesentlicher Grund, warum das Unternehmen nicht nur kreativ, sondern auch wirtschaftlich funktioniert.

«Wir wollten keinen Gourmettempel. Wir wollten einen Ort des Genusses
für alle Sinne.»
Andreas Caminada
Aktuell baut Caminada die eigene Landwirtschaft aus, um langfristig unabhängig von Lieferketten und Preisdruck zu sein. Die nächste Generation von Konzepten ist in Arbeit: «Wir sind Restaurantexperten, das ist unser Kerngeschäft, da wollen wir uns weiterentwickeln.» Somit rückt er selbst zunehmend in die Rolle des Impulsgebers: weniger Koch, mehr Coach.
Dabei ist der wirtschaftliche Erfolg eines Sternerestaurants alles andere als selbstverständlich. Viele Spitzenköche sprechen offen darüber, dass es ökonomisch deutlich einfacher wäre, einen gut laufenden Imbiss zu betreiben – hohe Fixkosten, schwankende Auslastung, aufwendige Menüführung und Personalbindung machen klassische Fine-Dining-Betriebe anfällig, besonders in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit. Caminada aber widerspricht diesem Narrativ entschieden: «Ich sehe das komplett anders», sagt er. «Natürlich ist es ein toughes Business, aber es ist auch eine riesige Chance. Wenn man gut kocht, braucht es keinen Hummer und keinen Kaviar. Eine Forelle, gut gemacht, kann genauso begeistern.»

Wirtschaftlichkeit ist für Caminada keine Frage der Küche, sondern der Haltung. «Dann stellt man halt einen Mitarbeiter weniger ein und macht es selbst. Das heisst nicht, dass die Küche schlechter wird», sagt er. Caminada plädiert für mehr Eigenverantwortung, für Planung – und für ein Stilbewusstsein, das sich nicht allein über luxuriöse Zutaten definiert.
Und trotz aller Struktur bleibt er sich selbst treu: «Ich bin Koch. Immer noch.» Auch wenn sein Alltag längst geprägt ist von E-Mails, Partnermeetings und neuen Standorten – das Kochen bleibt für ihn das Zentrum. Die Menüs schreibt er mit, wichtige Gerichte testet er selbst; nicht, weil er muss, sondern weil er will: «Das ist der Teil, den ich mir nie nehme.»
Caminada weiss aber auch, dass er sich auf eine neue Rolle vorbereiten muss. Irgendwann wird die Caminada-Gruppe ohne seine tägliche Präsenz auskommen müssen. «Der Name bleibt, aber irgendwann muss die Idee auch ohne mich tragen» – es geht darum, Werte zu verankern, nicht sich selbst.

Caminadas Haltung wirkt umso bemerkenswerter, wenn man seine Position im internationalen Vergleich betrachtet, denn nur eine kleine Gruppe von Köchen in Europa hat je die hohe Auszeichnung von drei Michelin-Sternen erreicht – in der Schweiz etwa aktuell nur vier Häuser, europaweit rund 130. Der Weg in diese Liga ist steil, der Verbleib dort verlangt absolute Konstanz.
Und so bleibt der Ort, den er einst nur mit Intuition und vier Mitarbeitenden startete, ein Symbol für das, was gute Gastronomie im 21. Jahrhundert sein kann: lokal verwurzelt, global relevant, menschlich geführt. «Meine Motivation war nie der Stern», sagt Caminada.
Am späten Nachmittag verabschiedet er sich von uns. Die Küche wartet, das nächste Meeting beginnt in zehn Minuten. Er blickt auf sein Schloss, sein Dorf, seine kleine, grosse Welt. «Das hier», sagt er, «ist mein Leben.» Und dann geht er die Stufen hinauf – zurück an den Herd.
Andreas Caminada wurde 1977 in Graubünden geboren. 2003 übernahm er Schloss Schauenstein in Fürstenau und baute es zu einem der besten Restaurants Europas aus. Heute ist er Drei-Sterne-Koch, Unternehmer und Gründer der Caminada-Gruppe, die er gemeinsam mit seiner Frau Sarah führt.
Fotos: Lukas Lienhard
Anmerkung: Eine frühere Version dieses Artikels behauptete fälschlicherweise, dass Andreas Caminada Schloss Fürstenau 2003 mit seiner heutigen Frau übernahm. Diese Information wurde nachträglich korrigiert.