Der Geist von 1856

In Anlehnung an den ursprünglichen Destillateur von Jack Daniel’s, den ehemals versklavten Nearest Green, hat Fawn Weaver in nur kurzer Zeit die am schnellsten wachsende amerikanische Whiskey-Marke der Geschichte und ein Ein-Milliarden-Dollar-Imperium aufgebaut, für das sie ehrgeizige – und ungewöhnliche – Pläne hat.

Im südlichen Tennessee, wo Whiskey irgendwo zwischen Religion und Disneyland angesiedelt ist, blickt Fawn Weaver über die 458 Hektar grosse Destillerie mit dazugehörigem Vergnügungspark, die sie in Shelbyville errichtet hat, um ihre seit sieben Jahren bestehende Marke Uncle Nearest zu stärken. Es gibt einen historischen Rundgang, vier Verkostungsbereiche, die längste Bar der Welt (158 Meter), einen Veranstaltungsplatz für Musik im Freien, eine in die Jahre gekommene Scheune, ein Grillrestaurant und einen Imbissstand, der Leckereien aus Tennessee wie Mountain Dew und Goo Goo Clusters anbietet. Und das alles, um mit der nahe gelegenen Destillerie von Jack Daniel’s zu konkurrieren, die jährlich 300.000 Menschen zur Whiskey-Verkostung willkommen heisst.

Hier herrscht eine gewisse historische ­Eleganz. Weaver, die Gründerin und Geschäftsführerin, eröffnete Uncle Nearest zu Ehren von Nearest Green, dem ehemaligen Sklaven und ­ersten Brennmeister von Jack Daniel’s, dessen Geschichte jahrzehntelang aus den Whiskey-Überlieferungen verschwunden war. Sie hat ihr Unternehmen auf eine Weise aufgebaut, die sich auf all die Freiheiten stützt, die Green und die nachfolgenden Generationen nie hatten.

«Ich glaube nicht, dass man die Marke ­besitzt, wenn man das Land nicht besitzt. Es ist etwas Besonderes für uns. Aber es ist auch unglaublich besonders für Schwarze», sagt Weaver, 47, die in ein rotes Athleta-Outfit gekleidet ist. «In der Vergangenheit haben wir viel gemietet, aber nicht viel besessen. Wir waren Botschafter und haben die Sachen anderer Leute aufgebaut, aber nicht unsere eigenen.»

Und Weaver hat aufgebaut. Seit dem ­Debüt im Jahr 2017 hat Uncle Nearest seinen Umsatz bis 2021 verdreifacht und erwartet in diesem Jahr einen Umsatz von 100 Mio. US-$ bei einer geschätzten Nettomarge von 20 %. Laut Berichten des Spirituosenforschungsunternehmens IWSR ist Uncle Nearest damit die am schnellsten wachsende amerikanische Whiskeymarke der Geschichte und treibt ein Geschäft an, das Forbes vorsichtig auf 1,1 Mrd. US-$ schätzt. Einschliesslich Immobilien ist Weavers Anteil von 40 % 480 Mio. US-$ wert. Darüber hinaus ist sie Eigentümerin der meistverkauften Spirituosenmarke aller Zeiten, die sich in Besitz und unter der Leitung von Menschen afroamerikanischen Ursprungs befindet.

Noch beeindruckender ist, wie Weaver Uncle Nearest aufgebaut hat. Ihr Fokus auf Eigentum führte dazu, dass sie Risikokapital und Private Equity zugunsten einer Vielzahl von Einzelinvestoren – 163, um genau zu sein, bei ­einem durchschnittlichen Scheck von 500.000 US-$ pro Person – mied, die Deals schliessen, um die Kontrolle über das Unter­nehmen und das Land zu behalten. Kein einziger externer Investor ­besitzt mehr als 2,3 %, und die Mitarbeiter ­(einige von ihnen sind Nachkommen von Nearest Green) besitzen weniger als 3 %. Dieses dezentrale Modell hilft Weaver, die Kontrolle zu behalten – sie besitzt 40 % von Uncle Nearest, hält aber zusammen mit ihrem Mann Keith 80 % der Stimmrechte. Das Unternehmen hat ausserdem Bankschulden in Höhe von etwa 106 Mio. US-$.

Ein Foto aus dem Jahr 1904, das Jack Daniel (mit Schnurrbart und weissem Hut) neben einem Mann sitzend zeigt, bei dem es sich vermutlich um George Green handelt, einen Sohn von Nearest Green, Daniels erstem Destilliermeister.

Weavers Abneigung gegen institutionelle Investoren schreckte die ganz grossen Spieler nicht ab. Da seine Bank BDT & MSD aussen vor blieb, investierte der Milliardär Byron Trott ­persönlich. «Fawn beweist immer wieder ausser­gewöhnliche Führungsqualitäten, Weitsicht und Belastbarkeit; allesamt entscheidende Eigen­schaften für einen erfolgreichen Gründer», sagt er.

Trotz Weavers «Verbot» – oder vielleicht gerade deswegen – melden sich Investmentbanker ständig bei ihr. Viele Spirituosenmarken erreichen eine gewisse Grösse und «verpuffen dann einfach», sagt Jason Coppersmith von Goldman Sachs, Top-Banker für Lebensmittel und Getränke. ­Weaver hingegen baut im wahrsten Sinne des Wortes langfristig. Sie ist schnell zu einer der grössten ­afroamerikanischen Landbesitzerinnen in Tennessee geworden – zusätzlich zu Uncle Nearests Standort besitzt sie (gemeinsam mit Keith) weitere 1.460 Hektar in der Nähe. In Shelby­ville gehört ihr ein Teil des Stadtzentrums, darunter ein Gebäude im Stil der Georgianischen Renaissance, in dem eine Filiale der U.S. Bank und eine Zeitungszentrale untergebracht sind. Mit einem Forbes-Reporter im Schlepptau besichtigt Weaver eine 35.000 Quadratmeter grosse ehemalige Baumwollspinnerei – einer der wenigen Orte in der Gegend, wo Afroamerikaner nach der Emanzipationsproklamation Arbeit finden konnten. Die Besichtigung führt durch Gänge voll mit Fässern, ­einer Abfüllanlage und die Verkaufsbüros. Neben dem Makler stehend stimmt Weaver einem Kauf für 2,3 Mio. US-$ zu, bevor die Immobilie auf den Markt kommt.

Weaver wuchs in einem streng christlichen Haushalt auf. Ihr Vater war einer der ersten Hitproduzenten von Motown. Nach seinem Umzug nach Los Angeles wurde er Pfarrer und konnte seine Rechnungen nicht mehr bezahlen. ­Weavers Eltern drängten sie mit 15 dazu, sich konservativ zu kleiden und auch so zu leben, und stellten ihr ein Ultimatum: Akzeptiere die Regeln oder geh! Anstatt sich zu fügen, verliess Weaver ihr Zuhause mit nur einem Rucksack und einer Brotdose. Sie brach die Highschool ab, lebte in Sozialwohnungen südlich von L. A. und war bald obdachlos. Nach Aufenthalten in zwei Obdachlosenheimen versuchte Weaver, sich das Leben zu nehmen – zweimal. Beim zweiten Mal erinnert sie sich an das Gefühl der Aktivkohle (die zur Behandlung von Überdosen verwendet wird), die durch ihre Nase und den Rest ihres Körpers drang, um ihn von dem Alkohol und den Tabletten zu befreien, die sie eingenommen hatte. In diesem Moment beschloss sie, ihren Lebenssinn zu finden.

Weaver schaffte es danach in die Öffent­lichkeitsarbeit und wurde in der Folge Leiterin einer Agentur für besondere Veranstaltungen. Nachdem sie ihre eigene PR-Firma gegründet hatte, geriet diese in Schwierigkeiten, weil sie zu viele Mitarbeiter eingestellt hatte. Nach ihrer Heirat mit Keith, der in der kalifornischen ­Politik tätig war und dann zwei Jahrzehnte in der Führungsriege bei Sony verbrachte, begann sie, mit ihm in Wohnimmobilien in Südkalifornien zu ­investieren. 2014 wurde ihr Buch über die Ehe, «Happy Wives Club», ein Bestseller. Dann, zwei Jahre später, las sie in der New York Times eine Geschichte über Nearest Green, die ihr Leben verändern sollte.

Bis 1865 war Green auf einer Plantage in Tennessee versklavt, auf deren Farm der junge Jack Daniel lebte und arbeitete. Greens Whiskey wurde in der Region berühmt, dank seiner Methode, Holzkohle aus verbrannten Bäumen zu verwenden, um den Alkohol weicher zu machen; eine Praxis, die ursprünglich in Afrika ­entwickelt wurde. Greens Abfüllungen waren so beliebt, dass die Holzkohlefiltration zu einem Marken­zeichen des Tennessee-Whiskeys (und einem wichtigen Unterscheidungsmerkmal gegenüber seinem Cousin aus Kentucky, dem maisbasierten Bourbon) wurde. Green hat die Methode nicht erfunden, aber er hat sie perfektioniert, wie Weaver in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Love & Whiskey» hervorhebt – und das schaffte der ehemalige Sklave ohne formelle Ausbildung oder die Fähigkeit zu lesen oder zu schreiben.

Weaver war keine Jack-Daniel’s-Trinkerin, aber sie wusste, dass es zahllose ehemalige Sklaven gab, deren Biografien, wie die von Green, aus der Geschichte gelöscht worden waren. Green war nicht länger Teil der offiziellen Jack-Daniel’s-Geschichte der Muttergesellschaft Brown-Forman – das versuchte Weaver zu korrigieren: Zu ihrem 40. Geburtstag unternahmen sie und Keith eine Reise nach Lynchburg, Tennessee; ihr Plan war, ein Buch über Green zu schreiben. In Tennesssee angekommen tätigten sie einen unerwarteten Kauf: Sie gaben 900.000 US-$ für eine 300 Hektar grosse Farm aus, im selben Ort, an dem Green Daniel zum ersten Mal die Whiskey­herstellung beigebracht hatte. Das ­Schicksal nahm noch eine weitere Wendung: Weaver fand schliesslich Originaldokumente, die bewiesen, dass die Farm die ursprüngliche Heimat von ­Daniels erster Destillerie war.

Während Weaver Greens Geschichte recherchierte – sie erfuhr, dass der 20-jährige Daniel ihn als seinen ersten Destilliermeister eingestellt hatte, nachdem er 1866 seine gleichnamige Destillerie gegründet hatte –, verfolgte sie auch seine Genealogie und brachte unbekannte Verwandte wieder zusammen. Sie wusste, dass die drei Nachkommen, die noch immer in der Destillerie Brown-Forman arbeiteten, wissen wollten, warum Green aus Jack Daniel›s Geschichte gestrichen worden war. (Die beiden Marken arbeiten jetzt gemeinsam an einem Gipfeltreffen zur Förderung von Unternehmen im Besitz afroamerikanischer Menschen.) Weaver hatte bereits begonnen, Markenrechte aufzukaufen, und war schockiert, dass Jack Daniel’s sie sich nicht gesichert hatte. Und als ein Nachfahre einmal äusserte, dass Green seinen ­eigenen Whiskey verdient hätte, wurde Weavers Mission klar.

Um die Gründungskosten der Destillerie zu stemmen, verkauften die Weavers all ihre Immobilien an der Westküste, darunter ihr Traumhaus in Old Agoura, Kalifornien, und zwei Mini Coopers. Sie riskierten damit ihre Kreditwürdig­keit, zeitweise hatten sie mehr als eine Mio. US-$ Schulden. Aber nachdem sie von Keiths Ex-Chef 500.000 US-$ für die erste Start­kapitalrunde ­erhalten hatte, brachte Weaver fünf ­weitere ­Interessenten dazu, ebenfalls zu inves­tieren. Von Anfang an konzentrierte sie sich auf farbige Investoren: «Das richtige Geld wird Sie finden, wenn Sie das falsche Geld ablehnen», sagt sie.

Der erste Uncle Nearest Whiskey – benannt nach dem Jahr, in dem Green vermutlich die Kohlefiltration perfektionierte (Nathan Green 1870 Single Barrel) – kam 2017 auf den Markt und gewann den ersten von mittlerweile über 1.000 Preisen für die Marke. Weaver konzentrierte sich zunächst auf Oregon: Als Bundesstaat mit Alkoholkontrolle (in dem die Landesregierung den Gross- und Einzelhandel mit Spirituosen kon­trolliert) bietet dieser Staat unabhängigen Herstellern eine bessere Sichtbarkeit, weil die grossen Händler, die Weltmarken wie Jack Daniel’s verkaufen, dort nicht so mächtig sind. Weaver gab im ersten Jahr eine Mio. US-$ für Marketing aus. Heute gibt es sieben Uncle-Nearest-Whiskeys – Bourbons und Ryes, alle unter der Leitung von Victoria Eady Butler, Greens Ururenkelin, produziert. «Wir haben zwar noch viel zu tun», sagt Butler, «aber Nearests Name ist jetzt weltweit bekannt.»

Strategisch wäre es nun ratsam, dass Weaver verkauft. In den letzten Jahren wechselten mehrere von Prominenten unterstützte Spirituosen­marken für astronomische Summen den Besitzer; und obwohl es sich wie eine Blase anfühlt, ist die stark konsolidierte Spirituosenbranche auf aufstrebende Marken angewiesen – und die Konglo­merate zahlen: Diageo gab 2017 eine Mrd. US-$ für George Clooneys Tequila Casamigos aus, gefolgt von 610 Mio. US-$ für Ryan Reynolds’ Aviation Gin im Jahr 2020. Die Preise der jüngsten Spirituosenakquisitionen sind ­ausserordentlich hoch: Aviation etwa wurde für das ­geschätzte 24-Fache des Umsatzes verkauft; im Jahr 2021 wurde Conor McGregors irischer Whiskey Proper No. Twelve für angeblich 600 Mio. US-$ oder das Zwölffache des Umsatzes übernommen.

Aber Weaver besteht darauf, dass sie nicht verkauft. «Ich bin standhaft geblieben, auch als die Leute sagten: ‹Sie muss eine Zahl haben›», erklärt sie. «Sie haben mir jede Zahl vorgelegt und die gleiche Antwort bekommen: ‹Nein!› Darauf bin ich am meisten stolz.» Anstatt zu verkaufen, kauft und bringt Weaver Produkte auf den Markt, darunter Wodka und vor allem Cognac: Mehr als 90 % des berühmten französischen Brandys werden jedes Jahr exportiert, und mehr als die Hälfte davon in die USA geliefert – drei Viertel davon werden von Afroamerikanern gekauft. «Sie haben noch nie ein Produkt geliefert bekommen, das von einer Person begründet und besessen wurde, die so aussah wie sie», sagt Weaver.

Im vergangenen Oktober kaufte Uncle ­Nearest Domaine Saint Martin, ein 40 Hektar grosses französisches Anwesen, das 1669 vom Lord Mayor of Cognac erbaut wurde, für geschätzte sechs Mio. US-$. Es gibt eine Destillerie, ausgedehnte Keller und sogar eine Böttcherei, in der ­Fässer hergestellt werden; alles bereit, um von ­Uncle Nearest umgebaut zu werden. Weaver plant, ­weitere kleine Spirituosenmarken zu kaufen, die afro­amerikanischen Unternehmern oder Frauen gehören, um das Angebot zu erweitern. Bisher hat sie in vier Marken in «schwarzem Besitz» ­investiert, darunter Equiano Rum und Sorel, ein Likör aus Brooklyn.

Vorerst bleibt die Uncle-Nearest-Destillerie in Shelbyville das Kronjuwel ihres wachsenden Imperiums. Im vergangenen Jahr kamen mehr als 230.000 Menschen, was Uncle ­Nearest zur global siebtmeistbesuchten Destillerie machte – und in die Reichweite von Jack Daniel’s brachte. Diese Besuche sind auch sehr profitabel: Eine 150-US-$-Flasche, die direkt an einen Besucher verkauft wird, hat eine höhere Marge als eine Kiste, die über Händler verkauft wird. Weavers Ambitionen gehen jedoch noch viel weiter: Sie hat 40 ­Hektar für den Maisanbau reserviert, aus dem irgendwann ein Whiskey in kleinen Mengen hergestellt werden soll. Eine in Bau befindliche Destillier­anlage, in der ein Teil des Whiskeys tatsächlich hergestellt werden soll, hat Kapazitäten für jährlich 18.000 produzierte Fässer. Weaver plant ausserdem, in der Nähe ein Hotel zu bauen und Veranstaltungen, wie das Heissluftballonfestival im letzten Jahr zu organisieren; das erste, seit Jack Daniel Anfang des 20. Jahrhunderts hier eines veranstaltete.

Ebenso hochgesteckt ist Weavers Ziel, jeden ihrer Investoren auszuzahlen – für 100 % Eigenkapital. Da sie und Keith keine Kinder haben, enthüllt Weaver etwas, das sie bisher für sich behalten hat: einen Plan, das Geschäft irgendwann den Nachkommen von Nearest Green zu vermachen. Sie finanziert ihnen bereits Stipendien und hofft, dass Führungspersönlichkeiten aus der Familie auftauchen, die das nächste Kapitel der Destillerie leiten.

«Ich werde es verdammt gross machen. Wenn ich es weitergebe, soll es kein 10-Milliarden-Dollar-Unternehmen sein – ich möchte, dass es ein 50-Milliarden-Dollar-Unternehmen ist», sagt Weaver. «Ich werde nie von Onkel Nearest profitieren. Das wusste ich vom ersten Tag an. Ich ziehe seine Familie gross.»

Text: Chloe Sorvino
Fotos: Jamel Toppin für Forbes, Jack Daniel Destillery

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