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Peter Brabeck-Letmathe prägte den Lebensmittelriesen Nestlé in einem halben Jahrhundert mehr als jeder andere. Im Ruhestand ist der Österreicher aber keineswegs untätig.
Als wir eintreten, sitzt Peter Brabeck-Letmathe inmitten eines lichtdurchfluteten, ausladenden Büros an seinem Schreibtisch. Auf dem Kaffeetisch liegen Bücherstapel, auf dem Schreibtisch steht eine Box, auf deren Vorderseite ein grosser Diamant prangt – darunter die Aufschrift „Mind The Future“. Darauf angesprochen antwortet Brabeck-Letmathe, dass es sich um ein Kompendium handle, das Menschen helfen soll, die grossen Fragen der Zukunft zu verstehen. „Wann auch immer ich nachdenken will“, sagt Brabeck-Letmathe, „ziehe ich eine Karte aus dem Stapel.“ Der frühere Nestlé-CEO greift in die Box: „Algorithmen für Emotionen.“ Auf der zweiten Karte, die der frühere Topmanager aus der Box holt, steht wiederum: „Das Ende der fossilen Brennstoffe.“ Brabeck-Letmathe: „Ich finde es stimulierend, egal, ob es um Wirtschaft geht, Demografie oder Ökologie. Es ist spannend, sich ab und zu mal wieder eine Frage zu stellen, an die man noch nie gedacht hat.“
Fast ein halbes Jahrhundert bei Nestlé
Dass Brabeck-Letmathe überhaupt Zeit hat, sich mit den vom Schweizer Thinktank W.I.R.E. erdachten Fragen zu beschäftigen, liegt daran, dass er sich seit 2017 im Ruhestand befindet. Eigentlich. Denn nach seiner fast 50 Jahre dauernden Karriere beim Lebensmittelgiganten Nestlé – davon elf Jahre als CEO und zwölf Jahre als Verwaltungsratspräsident – hat sich der Österreicher für seine Zeit heute ein Portfolio an Aktivitäten zusammengestellt, die ihn keineswegs untätig werden lassen. „Ich bin gut ausgelastet“, sagt Brabeck-Letmathe.
Peter Brabeck-Letmathe ist das Cover der Oktober-Ausgabe 2019 „Handel“
Darunter finden sich Investitionen in Start-ups, etwa die Lausanner Start-ups Gamaya (digitale Landwirtschaft) und Abionic (Medtech) oder das US-Unternehmen Moderna (Biotech) bzw. den vom Risikokapitalunternehmen SOSV lancierten Food-Accelerator Food-X. Zudem ist Brabeck-Letmathe Verwaltungsratspräsident beim Schweizer Telekommunikationsriesen Salt, Präsident des Verbier Festivals, Vizepräsident des Stiftungsrates des World Economic Forums (WEF) und Präsident des Beirats der spanischen Business School San Telmo. Seine Kaviarzucht Kasperskian musste er aus Rentabilitätsgründen kürzlich schliessen, seine Fluglinie Brabair läuft weiterhin.
Wirklich Aufmerksamkeit bekamen aber zwei andere, voneinander unabhängige Projekte des Österreichers: Einerseits ist er Präsident von Geneva Science And Diplomacy Anticipator (Gesda), eines Zusammenschlusses von Forschung, Wirtschaft und Politik, der die grossen Trends der nächsten 15 Jahre erkennen soll. Während er hier versucht, die Zukunft zu verstehen, ist ein anderes Projekt damit beschäftigt, die Vergangenheit aufleben zu lassen: die beinahe 200 Jahre alte und lange Zeit in Vergessenheit geratene Wiener Uhrenmarke Carl Suchy, an der Brabeck-Letmathe ein Drittel der Anteile hält. Wer also dachte, dass Topmanager nach ihrem Abschied in der Hängematte liegen, täuscht sich – zumindest im Fall von Brabeck-Letmathe.
Brabeck-Letmathe für Regulierung von Zukunftstechnologien
Eigentlich ist die Zielsetzung von Gesda ja unverfänglich. „Die Schweizer Regierung hat mich gebeten, dass wir innerhalb der nächsten drei Jahre ein oder zwei Themenkreise finden, die eine multilaterale Institution verlangen, um dieses Thema zu regulieren und Rahmenbedingungen schaffen zu können.“
Peter Brabeck-Letmathe
... war von 1968 bis 2017 bei Nestlé tätig: von 1997 bis 2008 als CEO, von 2005 bis 2017 als Verwaltungsratspräsident. Heute ist er „Chairman emeritus“ – und in zahlreiche andere Projekte involviert.
Denn während der Fortschritt der Forschung und Technologie in Bereichen wie künstliche Intelligenz oder Gentechnik ein hohes Tempo aufweist, hinkt die Regulierung der Bereiche oft hinterher. Und da solche Themen keine nationalen sind, geht die Schweizer Regierung davon aus, dass es internationale Organisationen brauchen wird, um die Rahmenbedingungen vorzugeben – und will diese tunlichst in Genf ansiedeln.
Dass der Schweizer Bund jedoch drei Millionen CHF zur Verfügung stellt, um eine von einem nicht in Genf lebenden Österreicher und ehemaligen Nestlé-Manager präsidierte Stiftung zu unterstützen, gefiel vielen Beobachtern gar nicht – vor allem, da die Summe letztendlich nur ein Teil der Gesamtinvestitionen von fast 112 Millionen CHF in die Organisation International Geneva, die Genf als Heimatstadt internationaler Organisationen stärken soll, ist.
Über Cyborgs, Androiden und Gen-Editing
Doch Brabeck-Letmathe lenkte gegen. So verkündete er, privat keinen Cent für sein Engagement zu akzeptieren, auch seine Spesen will er selbst zahlen. „Ich mache das als Entlohnung für die 30 Jahre, die ich in der Schweiz leben durfte. Und: Das ist ehrlich gesagt das Interessanteste, was man machen kann.“ Was ist denn für ihn die grösste Schwierigkeit der Zukunft? „Die grösste Herausforderung, die auf uns zukommt, ist die Entscheidung der Definition des Menschen.“ Er nennt Beispiele: Neil Harbisson, ein farbenblinder Brite, der sich eine Bluetooth-Antenne implantieren liess und nun nicht nur Ultraviolett- und Infrarotstrahlen sehen, sondern auch Farben anhand ihrer Wellenlänge vertonen und hören kann.
Harbisson fordert, offiziell als Cyborg anerkannt zu werden. „Das wäre der erste Mensch“, sagt Brabeck-Letmathe nachdenklich, „der in seinem Reisepass ‚Cyborg‘ stehen hätte.“ Auch der von Hanson Robotics entwickelte humanoide Roboter Sophia, der 2017 die Staatsbürgerschaft von Saudi-Arabien erhielt, oder die beiden in China geborenen, angeblich genmanipulierten Zwillinge, die immun gegen das HI-Virus sein sollen, beschäftigen ihn. „Wann hören wir auf, ein Mensch zu sein? Wann werden wir ein Cyborg? Wann werden wir ein menschlicher Roboter? Wann sind wir überhaupt Roboter? Das klingt vielleicht ein bisschen esoterisch, ist es aber nicht. Das ist nicht geregelt.“ Die künstliche Intelligenz diene noch zusätzlich als Beschleuniger. All diese Entwicklungen hätten laut Brabeck-Letmathe grosse Auswirkungen auf die Menschen. Fragen über Fragen also – und die Antworten sollen Brabeck-Letmathe und Co liefern. Das soll mithilfe eines Scientific Forums, das Grundsatzpapiere liefert, sowie eines Diplomatic Forums, das diese Grundsatzpapiere dann analysiert, um die darin enthaltenen Herausforderungen politisch und diplomatisch umzusetzen, gelingen.
Historische Aktienkurse
(Quelle: Nestlé)
Dass Handlungsbedarf besteht, steht für Brabeck-Letmathe aber ausser Frage: „Eines habe ich gelernt: Solange es etwas zu erforschen gibt, werden die Forscher nicht aufhören. Es ist wichtig, dass wir die nötigen Rahmenbedingungen schaffen, in denen die Forscher sich dann bewegen. Davon sind wir noch weit weg.“
Vollblutverkäufer
Mit den Fragen, die Brabeck-Letmathe heute beschäftigen, hatten seine Eltern wohl wenig am Hut. Der Vater war Tankwagenfahrer und später Vertreter einer Ölfirma in Kärnten, die Mutter Hausfrau. Brabeck-Letmathe wuchs in Villach in „der unteren Mittelschicht“ auf, wie er sagt. Schon früh zeigte sich aber seine Affinität zu klassischer Musik – unter anderem wegen des Grossvaters, der als Kammersänger an der Oper in Berlin engagiert war. Doch er merkte früh, dass er kein Solist sein wollte. „Als Solist hat man 90 % Schweiss und 10 % Ruhm. Und ich bin wahrscheinlich nicht so leidenschaftlich oder zielgerichtet, um sechs bis acht Stunden am Tag zu üben.“ Also kam der Wunsch, als Dirigent tätig zu sein. „Das ist viel holistischer.“ Doch auch hier fehlte das nötige Talent.
Der Kärntner entschied sich also, Welthandel zu studieren. Verkauft hatte er schon immer, sei es als Zeitungs- oder Teppichhändler, und Marken interessierten ihn auch. Er wollte nach dem Studium nach Südamerika gehen, da ihn die Berge und die Kultur faszinierten. Beim Vorstellungsgespräch machte er einen Deal: Er müsste sich als Verkäufer beweisen und könnte dann für Nestlé ins Ausland gehen. Und so startete der spätere CEO 1968 als Eisverkäufer bei einer Nestlé-Tochter in Österreich. Er hatte Erfolg und ging 1970 nach Chile, bevor er in Ecuador und Venezuela als dortiger CEO für Nestlé tätig war. 1987 wurde er nach Vevey zurückgeholt, zehn Jahre später wurde er CEO des gesamten Unternehmens.
Für grosse Aufregung sorgte Brabeck-Letmathes Krebserkrankung im Jahr 2014. Er schaffte es, seinen Verpflichtungen weiterhin nachzukommen, und machte in dieser Zeit, um ein Ziel vor Augen zu haben, den Pilotenschein. Dass er krank wurde, führt er heute auf eine einzige Stressphase in seiner Karriere zurück, denn seine Arbeit empfand er nie als Belastung. „Ich hatte eine einzige Stressphase in meiner Karriere und denke, dass das der Grund war, warum ich später an Krebs erkrankte.“
Ein zweiter Schicksalsschlag passierte früher. Nach seinem Studienabschluss stieg der leidenschaftliche Bergsteiger mit zwei Freunden in einen VW-Bus. Das Ziel: der Gipfel des 7.708 Meter hohen Bergs Tirich Mir in Pakistan. Ohne Führer und Erlaubnis der Behörden stieg das Trio auf, bevor ein Schneesturm sie so verlangsamte, dass der Proviant knapp wurde. Einer musste umkehren – Brabeck-Letmathe verlor das Pokerspiel und machte sich auf den Rückweg. Seine beiden Kollegen sah er nie wieder. Die Lehre? „Ein guter Bergsteiger kommt gesund wieder ins Tal. Das gilt auch für CEOs.“
Altwiener-Uhrenmarke entstaubt
Seine Erfahrung als Manager bringt Brabeck-Letmathe heute in andere Projekte ein. Als ihm Robert Punkenhofer, ein Diplomat und Kunstmanager aus Wien, aus dem Nichts eine E-Mail schrieb, war Brabeck-Letmathes Aufmerksamkeit geweckt. Punkenhofer war bei Recherchen zufällig auf die nicht mehr aktive österreichische Uhrenmarke Carl Suchy gestossen, zu deren Kunden einst Sigmund Freud und Kaiser Franz Joseph I. gezählt hatten. Als der Kunstmanager sein Erspartes dafür aufgebraucht hatte, suchte er nach Investoren – und wurde fündig. Dabei betont Brabeck-Letmathe, eigentlich kein besonders leidenschaftlicher Mensch zu sein. „Leidenschaft ist, wenn die Räson zur Seite bleibt und nur noch die Emotionen entscheiden. Das ist bei mir selten der Fall.“
Gleichzeitig sagt er, dass sein Engagement bei Carl Suchy mehr emotional als wirtschaftlich begründet sei. Auch Punkenhofer verweist auf die Emotion der Marke: „Wir wollten diese Legacy-Brand mit ihren prominenten Kunden wie Freud und dem Kaiser Franz Joseph vor dem Vergessen retten.“ In limitierter Serie gab Carl Suchy die „Waltz No. 1“ heraus, die in drei Versionen zu haben ist: klassisch, in Gold oder als „Skeleton“-Modell. Die einzelnen Versionen sind für 8.495 € (Klassik), 18.945 € (Gold) und 24.494 bzw. 38.500 € (Skeleton in Weiss oder Gold) zu haben.
Dass man damit nicht unbedingt im niedrigen Preissegment unterwegs ist, ist dem Team klar. Doch mit Marc Jenni habe man einen bekannten Uhrmacher an Bord, der qualitativ mit den Besten der Welt mithalten könne. Gefertigt wird in Fleurier und Lausanne, Hauptsitz des Unternehmens ist Wien. „Wir spielen mit Wien“, sagt Punkenhofer. So hat man sich vom Wiener Architekten Adolf Loos inspirieren lassen und sich ausserdem als besonderen Blickfang statt eines klassischen Sekundenzeigers eine rotierende Scheibe ausgedacht, die das ganz exakte Ablesen der Uhr in gewisser Weise verunmöglicht.
Punkenhofer: „Wir sind keine Speed-Capital wie in London oder New York. In Wien verläuft das Leben langsamer, die einzelne Sekunde ist nicht so wichtig.“ Trotz des schwierigen Spagats scheint das Konzept erfolgreich zu sein. Dabei hält man den Output limitiert: Aktuell werden exklusive Auflagen von knapp unter 100 Stück vertrieben, von den Skeleton-Modellen wurden überhaupt nur fünf Exemplare produziert und verkauft. „Mittelfristig ist eine Produktion von 200 Stück geplant“, so das Unternehmen. Nachdem der Start geglückt ist, geht es nun an die zweite Herausforderung: die kapitalintensive Distribution, die eventuell auch Partnerschaften mit etablierten Marken notwendig macht.
Der Onlineverkauf macht bisher jedenfalls 50 % der Verkäufe aus, der Rest läuft über traditionelle Kanäle, die Punkenhofer auch in Zukunft nicht aufgeben will. Dass Österreich nicht unbedingt für seine lange Uhrmachertradition bekannt ist, ist für Punkenhofer und Co nicht entscheidend, denn auch Marc Jenni habe sich gefreut, so etwas wieder aufleben lassen zu können. Das ist es übrigens, was auch Brabeck-Letmathe, der sich sein Leben lang mit Marken beschäftigt hat, überzeugte. „Eine gute Marke braucht Geschichte. Und darin eingebettet sind ihre Werte.“
Die Aktivitäten des
Peter Brabeck-Lemathe
Ruhestand? Von wegen.
Mit all seinen Investitionen, Mandaten und Aktivitäten ist Brabeck-Letmathe heute auf einem ähnlichen Arbeitspensum wie zu Nestlé-Zeiten. „Von meiner Reisetätigkeit bin ich ungefähr wieder auf dem gleichen Niveau“, sagt Brabeck-Letmathe, der als „Chairman emeritus“ weiterhin sein Büro im Hauptquartier von Nestlé Schweiz nutzt. Rund 80 % der Zeit sei er „irgendwo unterwegs“. Eine kleine Einschränkung gibt es aber doch, so Brabeck-Letmathe, der im November 75 wird. Denn während er seine Vorbereitungs-, Lese- und Denkarbeit stets erst spätabends erledigte, enden seine Tage mittlerweile früher. „Ich beginne heute um 7.30 Uhr, um 19.30 Uhr ist dann aber Schluss.“
Dennoch sollen schon bald zwei weitere Tätigkeiten hinzukommen: Brabeck-Letmathe wird Präsident einer Kosmetikfirma sowie eines französisch-chinesischen Joint Ventures. Mehr kann er jedoch nicht verraten. Fest steht einzig, dass Brabeck-Letmathe auch in Zukunft nicht langweilig wird. Wäre denn ein klassischer Ruhestand mit Spaziergängen am See, der Lektüre von Büchern und dem Füttern von Enten nie eine Option für ihn gewesen? „Das würde ich nicht aushalten“, lacht Brabeck-Letmathe. „Da würden mir 10.000 Dinge einfallen.“
Text: Klaus Fiala
Fotos: Christian Wind
Der Artikel ist in unserer Oktober-Ausgabe 2019 „Handel“ erschienen.