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Im norwegischen Ålesund nutzt ein Pionier auf dem Gebiet der erweiterten Realität sein Wissen, um Städten unter die Arme zu greifen. Bei der Technologie spielt ein „digitaler Zwilling“ die Hauptrolle.
Für Joel Mills steht nicht die Technik des Simulierens an sich als die grosse Innovation im Mittelpunkt. Vielmehr sind es die vielfältigen Möglichkeiten und der Nutzen für den Menschen, die ihn an seinem Handwerk faszinieren. Mills ist CEO des Offshore Simulation Centers (OSC) in Ålesund, Norwegen, eine der weltweit führenden Anlaufstellen für Simulations-Technologien. Vergangenes Jahr wurde zusätzlich das Tochterunternehmen AugmentCity gegründet. Die leistungsfähigen Simulations-Verfahren sollen nun dabei helfen die Lebensqualität in Städten zu verbessern.
Um eine Simulation zu erstellen, stehen je nach Bedarf verschiedene Ausstattungen zur Verfügung – mal gleicht diese einer riesigen Kugel, mal sieht sie aus wie ein Schiffsdeck. Als gemeinsamen Nenner haben sie eine Kabine, in der die Abbildungen auf Bildschirmen beobachtet werden. Die vielen Monitore und die von Schaltern übersäte Steuerungsfläche wirken auf den ersten Blick realitätsfern. Dabei sind Simulationen im Grunde ein Hilfsmittel um Sachverhalte verständlich zu kommunizieren. Was sie insbesondere vermitteln ist auch bekannt unter einem Begriff, der derzeit in aller Munde ist: Big Data.
Big Data verständlich machen
„Wir Menschen sind der Meinung, dass Computer viel besser darin sind, komplexe Daten zu verarbeiten. Aber auch wir sind sehr wohl fähig dazu, mit grossen Datenmengen umzugehen, solange – und das ist das Entscheidende – wir sie in einem bestimmten Format erhalten: Wir müssen sie sehen können“, so Mills. „Sobald uns Menschen Informationen in visualisierter Form vorliegen, und es nicht ein codiertes Dokument von 8.000 Seiten ist, so können wir es einem Simulator gleichtun, und grosse Datenmengen in kurzer Zeit verarbeiten.“
Es ist ihm ein Anliegen, den Menschen zu vermitteln, wie Simulatoren funktionieren und welche Aufgaben diese übernehmen können. „Das Simulieren ist ein universelles Werkzeug. Für den Simulator spielt es eigentlich keine Rolle wofür die Daten, die er abbildet, letztlich genutzt werden. Er gibt sie nur klar verständlich für uns wieder. Von diesem Werkzeug profitiert schon seit vielen Jahren die Offshore Branche. Aber auch die Medizin, der Kapitalmarkt, Bildungseinrichtungen oder eben insbesondere Städte könne ihren Nutzen daraus ziehen“.
Von der Tiefsee in die Stadt
Der Ursprung von Forschung und Einsatz der Technologie liegt in der Offshore-Industrie. Diese umfasst sowohl neuere Verfahren zur Energiegewinnung im Wasser wie Windparks, als auch die Öl- und Gasindustrie in Küstennähe. Ein klassischer Prozess, bei dem von den visuellen Prognosen der Simulatoren Gebrauch gemacht wird ist das sogenannte Drilling, dem Bohren nach Öl. Bei allen Offshore-Operationen ist das Einschätzen von Risiken und Reduzieren eben dieser von grosser Bedeutung. Das Erdöl liegt hierbei in Gesteinsformationen unter dem Meeresboden vor. Die Suche danach sowie der Bohranstich bergen eine hohe ökologische Gefahr.
Joel Mills ist mit OSC bereits 15 Jahre lang in der Branche tätig, wobei das Unternehmen als Spin-off einer norwegischen Universität startete. Damals lautete der Tenor im Forschungsbereich, dass es die Aufgabe von Simulationen sei, eine perfekte Kopie der Realität darzustellen. Doch mit dieser eindimensionalen Perspektive konnte Mills sich nicht zufriedengeben. Ihm gefiel die Grundidee der erweiterten Realität viel zu sehr um diese unangetastet zu lassen: Reale Gegebenheiten werden mit (un)möglichen Szenarien und Veränderungen konfrontiert.
Neue Wege zur Messung
Der Übergang vom klassischen Usus zur Analyse von Städten steht noch am Anfang. Doch die mögliche Exaktheit und Effizienz von Prognosen scheinen vielversprechend. Eine der aufschlussreichsten Möglichkeiten ist die Analyse von Risiken für eine Stadt anhand der dreidimensionalen Abbildungen, wobei auch Hypothesen getestet werden können. Als Ausgangspunkt für die Messungen werden die Sustainable Development Goals (kurz SDGs) der Vereinten Nationen (UN) herangezogen. Die 17 Ziele zur nachhaltigen Entwicklung werden in die drei Bereiche Economy, Society und Environment aufgegliedert, die sich wiederum in 92 KPIs unterteilen lassen.
Für Mills ist dabei vor allem eines auffällig und problematisch: Die Indikatoren gehen von Idealsituationen aus, und berücksichtigen viele Faktoren nicht. Ein wichtiger Faktor bei beispielsweise Rettungseinsätzen wäre aber die Uhrzeit, da der Strassenverkehr in der Kalkulation je nach Tages- oder Nachtzeit ein unterschiedlich grosses Hindernis darstellt. Die KPIs betrachten auch das Stadtbild als Ganzes. AugmentCity hingegen steht eine riesige Ansammlung von konkreten Daten zur Verfügung, die es möglich macht einzelne Bezirke zu untersuchen. So ist eine Analyse der drei Kernthemen Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt auch auf einem Micro-Level möglich (zu einem Grad, bei dem der Schutz der Persönlichkeit respektiert wird, Anm.). Mit Augmented Reality können aber auch Indikatoren visualisiert werden, die im echten Leben gar nicht sichtbar sind. Anhand des „digitalen Zwillings“ der Küstenstadt Ålesund wurde beispielsweise die Lärmbelastung untersucht. Die Simulation zeigte auf dem Grundriss der Insel Vigra eine Bergmasse. Das vermeintliche Hochland würde zwar gut mit der umliegenden Gebirgs- und Fjordlandschaft harmonieren, ist tatsächlich aber eine Abbildung des intensiven Lärms am ansässigen Flughafen.
Multivariat denken und sehen
Was auf visueller Ebene rein durch das Auswerten des „digital twins“ möglich ist, zeigt sich im Rahmen eines Experiments zum Thema Verkehrsprobleme. In Ålesund erhöht sich dieser wie in anderen Städten auf der Welt zur Rush Hour immens. Um eine Lösung zu schaffen, ohne dafür infrastrukturelle Änderungen durchführen zu müssen, wurden verschiedene Ansätze zusammengetragen. Als erste Massnahme wurde zunächst die in der Stadt einheitliche Öffnungszeit an bestimmten Kindergärten minimal verschoben. Dies stellt eine sinnvolle Korrektur für Eltern mit flexiblen Arbeitszeiten dar, die sich diese einteilen und so dem Morgenverkehr entkommen können. Zudem wurde in der Fallstudie das Entgelt für Parken in bestimmten Strassen während einer Rush Hour deutlich angehoben. Die dadurch sinkende Nachfrage an Parkplätzen könnte auch dazu führen, dass nun mehr Einbahnen als zweispurige Strassen zur Verfügung stehen. Letztlich wurde ein dritter Faktor untersucht, der zuvor bei Überlegungen nicht in den Vordergrund trat: die Müllabfuhr. Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass manche Routen auch zu Stosszeiten von der städtischen Müllabfuhr abgefahren werden. „Als ich davon gehört habe, hielt ich das auf Anhieb für totalen Irrsinn“, lacht Mills. „Aber eigentlich ist das Timing wenig überraschend – einfach, weil der Zusammenhang davor noch nie so analysiert wurde. Die Idee hinter dem Simulieren, ist auch ein ganzheitliches Bild erzeugen zu können, indem unterschiedliche Faktoren gleichzeitig erprobt werden. Bei der Kombination all dieser Veränderungen zeigte sich tatsächlich, dass die Verkehrswege im Experiment deutlich flüssiger gestaltet werden konnten“, so Mills.
Zusammenarbeit mit der UN
Trotz der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten sei gesagt: Alle Lösungen, die durch Simulationen bereitgestellt werden, sind nur so gut wie die Daten, auf denen sie beruhen. „Mir ist es noch wichtig hervorzuheben, dass es uns mit AugmentCity nicht darum geht, Daten zu besitzen. Sinn und Zweck ist es sie zu sammeln und darzustellen, so transparent und sorgfältig wie möglich. Wir wollen künftig die Zusammenarbeit mit dem akademischen Umfeld, der UN und Städten vertiefen, um den Weg gemeinsam zu beschreiten“. Vorerst hat nur Ålesund einen solchen digitalen Zwilling – das soll sich aber schnellstmöglich ändern. Ein wichtiger Meilenstein wurde bereits gelegt. Augment City wurde vor Kurzem zum „globalen Simulations-Partner“ für die Smart City Initiative „U4SSC“ (das Ziel von U4SSC ist es, Städten Empfehlungen zu geben, wie sie durch Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) smarter und nachhaltiger werden können, Anm.) der Vereinten Nationen berufen. „Diese Kooperation erfüllt mich wirklich mit Freude. Nicht einfach nur, weil es eben die Vereinten Nationen sind. Sondern auch weil eine Technologie, die ursprünglich von der Ölindustrie gesponsert wurde, nun dabei helfen kann Lebensräume durch nachhaltige Massnahmen zu verbessern“, sagt Mills.
Text: Chloé Lau
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