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Konfrontiert mit beispielloser Volatilität müssen moderne Finanzvorstände ihr Denken und Handeln grundlegend umstellen, sagt Jakob Müllner. Die Tage der reinen Finanzoptimierer sind vorbei – gefragt sind heute Strategen, die nicht mehr alles planen wollen, sondern den Zufall als Chance sehen. Wie gelingt dieser Wandel?
In einer Welt, in der Unsicherheit überwiegt, wird die traditionelle Arbeit von CFOs zunehmend auf den Kopf gestellt. Finanzvorstände richteten ihren Blick früher vor allem auf die Bücher; sie erstellten Forecasts und kalkulierten Risiken. Doch dieses Vorgehen scheint in Zeiten von Pandemien, geopolitischen Spannungen und disruptiven Marktveränderungen nicht mehr auszureichen.
„Das Unternehmensumfeld wird einfach immer unvorhersehbarer“, sagt Jakob Müllner. Er ist akademischer Direktor des Executive MBA Finance und Associate Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien. „In so einem Umfeld entsteht für den CFO eine neue Rolle.“
Der Begriff, der das neue Umfeld beschreibt, kommt aus dem Militärischen, wurde aber von der Wirtschaftswelt (mit Begeisterung) angenommen: BANI steht für „brittle, anxious, non-linear, incomprehensible“. Genau diese Eigenschaften prägen heute das wirtschaftliche Umfeld, in dem CFOs agieren müssen, so Müllner. Er hat vier fundamentale Stützen herausgearbeitet, die Finanzvorständen helfen können, sich in dieser neuen Realität zurechtzufinden und ihre Rolle neu zu definieren. Und er erklärt, welche Herausforderungen dabei entstehen und wie CFOs diese lösen können.
Viele CFOs haben einen Hintergrund in der Finanzwissenschaft, setzt Müllner zur Erklärung an. Die Disziplin konzentriere sich traditionell auf die breite Mitte – darauf, wie „normale“ Unternehmen unter „normalen“ Bedingungen funktionieren. Sie sucht nach generalisierbaren Zusammenhängen und stellt dabei Annahmen auf, setzt etwa oft effiziente Märkte voraus. Die erste Stütze ist, so Müllner, dass sich CFOs von diesem Ansatz einen Schritt entfernen müssen: Sie müssen nicht mehr nur Finanzspezialisten, sondern auch strategische Denker sein. „Rein wissenschaftlich, aber auch in der Praxis sind Finance und Strategie zwei Disziplinen, die sehr unterschiedliche Zielsetzungen haben; und sehr unterschiedliche Weltanschauungen“, erklärt der Professor.
Er zieht eine Analogie zur Medizin: „Wie die Physiologie in der Medizin beschäftigt sich die Finanztheorie in ihrer Zielsetzung vor allem mit den ,normalen‘ Funktionsweisen von Unternehmen.“ Die Strategie hingegen behandelt das Aussergewöhnliche – jene Unternehmen, die aus der Mitte ausbrechen und herausragen wollen (oder jene, die etwas besonders schlecht machen). „Die gesamte Zielsetzung der Strategieforschung ist: Wie komme ich weg aus der Mitte, hinaus zu den Ausreissern? Wie mache ich mein Unternehmen zur Ausnahme?“, so Müllner. Wie die klinische Medizin, führt er den Vergleich fort, untersucht Strategie die Abweichungen vom Normalzustand und wie man diese herbeiführen oder vermeiden kann.
In einer BANI-Welt werden Extremereignisse immer wahrscheinlicher, deshalb kann „der CFO nicht einfach bloss ein Physiologe sein, er muss auch ein klinischer Arzt werden“, betont Müllner. Die Ereignisse, die früher als Ausnahmen galten, werden zunehmend zur Regel – und darauf müssen CFOs vorbereitet sein. Müllner: „Dem CFO muss bewusst sein, dass das, was historisch ,normal‘ funktionierte, nicht notwendigerweise auch heute noch zutrifft.“
Die zweite Stütze ist eine Rückkehr zur Theorie als Werkzeug, um die Praxis zu analysieren. „Eine Theorie ist so etwas wie eine vereinfachte Landkarte, wie die Welt funktioniert“, erklärt Müllner. „Wenn ich ein BANI-Environment habe, verändert sich mein Umfeld immer sehr schnell.“ Genau dann sei es gut, eine Landkarte zur Hand zu haben.

Das Unternehmensumfeld wird einfach immer unvorhersehbarer. In so einem Umfeld entsteht für den CFO eine neue Rolle.
Jakob Müllner
Gehe man einen bekannten Weg, erklärt Müllner, könne man sich durch die eigene Erfahrung orientieren. Aber in unbekanntem Terrain wird eine Landkarte zum unverzichtbaren Hilfsmittel. So ist es auch mit Theorien in einer unvorhersehbaren Geschäftswelt: CFOs können sich, so Müllner, nicht mehr ausschliesslich auf ihre bisherigen Erfahrungen verlassen. Stattdessen müssen sie eine theoretische Brille aufsetzen und die Welt nach systematischen Zusammenhängen, die aus der Wissenschaft kommen, interpretieren. Je schneller sich das Umfeld ändert, so der Finanzprofessor, desto wertvoller werden theoretische Grundlagen gegenüber reiner Praxiserfahrung.
Als dritte Stütze nennt Müllner die Aleatorik (vom Lateinischen „alea“ – der Würfel), die Rolle des Zufalls im Geschäftsleben, und sie überschneidet sich zum Teil mit der zweiten und der vierten Stütze, dem Serendipity-Mindset. Aleatorik beschreibt einen Zustand, in dem es keine verlässliche Systematik gibt – eine Unsicherheit, die man selbst mit vollständigem Wissen nie ganz ausschalten kann. „CFOs müssen wieder lernen, dass vieles von dem, was passiert, Zufall ist“, so Müllner. „Business Schools bilden sie oft so aus, als hätten sie Allmacht und könnten mit den richtigen Zahlen so gut wie alles voraussagen. Dieses Denken müssen CFOs ein Stück weit ablegen. Sie müssen realisieren, dass viele Dinge in Märkten – aber auch in der Politik – nur sehr schwer oder gar nicht vorhersehbar sind.“
Müllner zitiert eine Studie von Horváth, einer österreichischen Unternehmensberatung: Diese forderte deutschsprachige CFOs auf, ihre Aufgaben nach Wichtigkeit einzuordnen. Das Ergebnis: Planung erreichte Platz eins, Analyse kam ganz hinten. „So kann man arbeiten, wenn die Welt planbar ist“, sagt Müllner. „Aber wenn die Welt unvorhersehbar ist, dann ist die Planung wertlos.“
Aus Müllners Sicht sollte der moderne CFO genau das Gegenteil tun: das Planen weiter nach hinten stellen und die Gegebenheiten, die sich zufällig ergeben, theoriebasiert statt KPI-getrieben analysieren. Hier sieht er auch den grössten Aufholbedarf bei heutigen Finanzvorständen: Die Akzeptanz, dass Forecasts trotz richtiger Methodik oft nicht eintreffen, weil der Zufall dazwischenkommt, falle vielen CFOs aufgrund ihrer Ausbildung und psychologischer Faktoren schwer.
Auf diese Akzeptanz baut die vierte Stütze auf: das Serendipity-Prinzip. Dieses Konzept, das stark durch Christian Busch von der University of Southern California geprägt wurde, geht über die blosse Akzeptanz des Zufalls hinaus. „Buschs Definition von Serendipity ist vereinfacht gesprochen: Zufall plus Handeln“, erklärt Müllner. „Ein moderner Leader erlaubt nach dem Serendipity-Prinzip nicht nur den Zufall, sondern kreiert ein Umfeld, in dem Zufälle passieren, auf denen er aufbauen kann. Er schafft es, auf Basis von Zufällen wirtschaftliche Vorteile zu ziehen.“ Penicillin, die Röntgenstrahlung und Post-its sind alle durch Zufälle entdeckt bzw. erfunden worden, sagt Müllner. Oder umgekehrt: Hätten die verantwortlichen Forscher und Unternehmer ihr Umfeld stark kontrolliert, hätten sie diese Entdeckungen womöglich nicht gemacht.
Als Beispiel für ein Unternehmen, das dieses Prinzip erfolgreich anwendet, führt Müllner Bitpanda an, das österreichische Krypto-Einhorn. Die Welt von Bitcoin, Ether und Co war immer schon unsicher, die Kryptowährungen sind sehr volatil. Bitpanda habe die Unsicherheit in diesem Umfeld aber gut genutzt, sagt der Finanzprofessor: Das Unternehmen habe den letzten „Kryptowinter“ (Fachjargon für die zweistelligen Abstürze, die der Markt nun schon mehrmals hinnehmen musste und die das Geschäft für viele Krypto-Unternehmen erschweren) genutzt, um sich strategisch neu auszurichten. „Die Gründer haben verstanden, dass sie den Kryptowinter – der ja aus Gründen entstanden ist, die sie nicht kontrollieren können – für ihren Vorteil nutzen können“, erzählt Müllner. Bitpanda baute in der Zeit die digitale Infrastruktur aus und investierte in Sicherheit und regulatorische Compliance. So war das Unternehmen gut aufgestellt, um zu profitieren, als die Krypto-Kurse wieder bergauf gingen.
Der entscheidende Unterschied zum traditionellen CFO-Denken: Statt bei Planungsfehlern oder unerwarteten Ereignissen die ursprüngliche Planung anzuzweifeln, hat Bitpanda die Realität akzeptiert und daraus Chancen entwickelt. „Serendipity bedeutet, im Angesicht der unvermeidbaren Disruption, von historischen Mustern unbefangen, in eine neue Zukunft zu denken, statt retrospektiv nach Fehlern in der Vergangenheit zu suchen, um Bestehendes zu optimieren“, bringt Müllner das Prinzip auf den Punkt.

Müllner sieht aber auch Fehler, die CFOs beim Umgang mit zunehmender Ungewissheit häufig begehen. Das übermässige Vertrauen in die eigene Vorhersagefähigkeit sei einer davon und führe oft dazu, dass CFOs das Planen nicht loslassen können. „Viele CFOs denken zu deterministisch. Sie sollten probabilistischer denken“, erklärt Müllner. Sie betrachten ihre Planungen als definitive Aussagen über die Zukunft, anstatt sie als Wahrscheinlichkeitsverteilungen zu sehen, erklärt er. „Wenn dann etwas nicht nach Plan läuft, wird die ursprüngliche Planung angezweifelt, anstatt die Möglichkeit zu erkennen, dass die Planung korrekt war – im Sinne des wahrscheinlichsten Erwartungswerts –, aber diesmal eben nicht eingetreten ist, weil der Zufall seine Finger im Spiel hatte.“
Hinzu komme oft mangelnde Wertschätzung für andere funktionale Rollen im Unternehmen. Müllner: „CFOs müssen auch mit R&D, Political Analysts und Technikexperten kommunizieren. Die grossen Disruptionen in der BANI-Welt kommen oft aus Bereichen, die definitorisch nicht am Tisch des CFOs liegen – ihn aber trotzdem betreffen.“
Für die Zukunft prognostiziert Müllner ausserdem, dass die politische Dimension für CFOs an Bedeutung gewinnen wird. „Corporate Diplomacy wird immer wichtiger, Non-Market Strategies werden immer wichtiger; denn die Politik treibt dieses BANI-Environment“, sagt er. Führungskräfte – und damit sind nicht nur, aber auch CFOs gemeint – müssen zunehmend nach aussen als Diplomaten und Politiker agieren, zusätzlich zu ihren internen Steuerungsaufgaben.
Was bedeutet das alles für die tägliche Arbeit von CFOs? Müllner betont, dass es nicht darum geht, die Aufgabenfelder grundlegend zu ändern: „Es muss sich das Mindset des CFOs ändern, um auch die immer schwieriger werdende Aufgabe des CEOs zu verstehen und unterstützen zu können“, sagt er. Die Aufgabe des CFOs werde also weiterhin sein, finanzielle Entscheidungen zu treffen. Aber eben mit einem anderen Ansatz.
Jakob Müllner ist akademischer Direktor des Executive MBA Finance an der WU Executive Academy und Associate Professor am Institut für Internationale Wirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU Wien). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen International Finance, Political Risk and Non-Market Strategies und Financial Risk Management.
Fotos: Katharina Gossow