Citizen Khan

Londons Bürgermeister Sadiq Khan will seine Stadt zur grünen Metropole ausbauen, indem er Autofahrer zur Kasse bittet und Radwege massiv ausbaut. Diese Politik ist hoch umstritten und bringt ihm sogar Morddrohungen ein. Dass er kürzlich zum dritten Mal wiedergewählt wurde, sieht er als Vertrauensbeweis. Doch seine Mission beginnt erst.

Wenn Sadiq Khan über seine Umweltpolitik spricht, wirkt er sehr entspannt. Das überrascht, denn der Londoner Bürgermeister wird seit Jahren dafür massiv angefeindet und erhält sogar Morddrohungen. Neulich bekam er einen Brief mit Pistolenkugeln an seine Privatadresse geschickt. Dabei will Khan nur das Beste für sein Stadtvolk: Er will London zur grünen Metropole umbauen, in der jeder saubere Luft atmen kann. Das klingt vernünftig, gefällt aber nicht jedem.

„Man darf gegenüber einer lauten Minderheit nicht klein beigeben. Die schweigende Mehrheit unterstützt meine Pläne“, sagt Khan mit ruhiger Stimme. Der Bürgermeister sitzt an diesem freundlichen Frühlingstag in einem Büro in den Royal Docks in Newham im Osten von London. Sein Rathaus hat internationale Journalisten eingeladen, um die Ergebnisse einer neuen Studie zur Luftqualität in der Stadt vorzustellen.

Konkret geht es um die Auswirkungen der Londoner Niedrigemissionszone Ulez (Ultra Low Emission Zone), die Khan auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt hat. Ulez ist sein wichtigstes Projekt, und er treibt es gegen alle ­Widerstände voran.

Wer mit Autos ins Stadtgebiet fährt, deren Verbrennermotoren nicht den Emissionsricht­linien entsprechen, muss hohe Gebühren bezahlen – rund 15 € pro Tag. Die Einhaltung der Regeln wird mittels eines engmaschigen Netzes an Überwachungskameras kontrolliert. Das empört Datenschützer; und für Taxifahrer, Handwerker, Kleinbetriebe und Tausende Arbeiter, die täglich in die dicht bebaute Metropole pendeln, ist die Massnahme teuer und unangenehm. Viele sehen in Ulez ein Symbol für Khans Kreuzzug gegen den motorisierten Verkehr, andere sehen in Ulez sogar den Versuch, einen Überwachungsstaat zu errichten. Khan sei der Vertreter einer angeb­lichen „Klimadiktatur“: Dieser krude Begriff fällt im Netz meist unter Verschwörungstheoretikern, die gegen Khan, seine Politik und auch seine Herkunft hetzen.

„Leider wird Umweltschutz für die Kultur­kriege ausgeschlachtet“, sagt der 53-Jährige und wirkt dabei, als könnte ihn die Wut, die seine Politik mitunter auslöst, nicht im Geringsten ­beeindrucken. Schliesslich kämpft er ja für das Gute – so sieht er es zumindest. „Jeder Stadt­bewohner soll saubere Luft atmen können“, sagt der Politiker der sozialdemokratischen Labour-Partei. Und die Ergebnisse seiner Studie zur Ulez-Zone, so meint er, zeigen, dass er diesem Ziel näher kommt.

Nach den ersten sechs Monaten der Ausdehnung der Umweltzone seien die Schadstoff­emissionen „dramatisch niedriger“. Vor allem die gefährlichen Stickoxidemissionen (NOx) sinken in den Aussenbezirken Londons, die historisch besonders unter Abgasbelastung leiden. Mehr als 90 % der Fahrzeuge im Stadtgebiet entsprechen nun den strengen Abgasnormen. Das sind zwar gute Nachrichten, doch eigentlich gehen Khans Massnahmen nicht weit genug: Laut Prognosen wird London trotz dieser Fortschritte im Jahr 2030 nicht die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation zur Luftqualität erfüllen können. Es gibt für Khan also noch viel zu tun. Eigentlich steht er erst am Anfang seiner Mission.

Seit seinem Amtsantritt 2016 geht Khan ­radikaler als seine Vorgänger gegen die Abgas­belastung und den motorisierten Verkehr in der Stadt vor. Trotzdem – oder gerade deshalb – hat der 53-Jährige im Frühjahr zum dritten Mal in Folge die Bürgermeisterwahl gewonnen. Das ­gelang keinem seiner Vorgänger. Seine Gegenkandidatin von den Konservativen versprach, die Umweltzone Ulez umgehend rückgängig zu machen – doch das kam bei der Mehrheit der Wähler nicht an. Dass Khan mit einer überzeugenden Mehrheit im Amt bestätigt wurde, hält wohl auch eine Lehre für andere Umweltpolitiker bereit.

Britische Umweltschützer meinen, Khans Erfolg habe gezeigt, dass kurzfristig unbequeme, aber langfristig sinnvolle Klimapolitik eben doch populärer sei, als oft angenommen werde. Auch scheint ein grosser, aber eher leise auf­tretender Teil des Wahlvolks politische Entschlossenheit zu belohnen – erst recht, wenn der Gegenwind scharf bläst.

Am Tag nach der Wahl schrieb die junge britische Klimaaktivistin Scarlett Westbrook in der Zeitung The Independent: Das „Ge­jammere der Alten“ über Londons Umweltzone solle nun endlich mal aufhören. Simon Birkett, Leiter des Vereins Clean Air in der britischen Hauptstadt, empfiehlt ­anderen Städten mit einem Problem bei der Luft­verschmutzung, den Weg Londons nachzuahmen: „Umweltzonen bringen gesundheitliche Vorteile und führen insbesondere zu einer Verringerung der Zahl von Krankenhauseinweisungen, Herzinfarkten und Schlaganfällen. Es gibt also einen ganz klaren gesundheitlichen Gewinn, wenn wir diesen Weg weiterverfolgen.“

Zu diesem Weg gehört die Reduzierung des motorisierten Verkehrs; auch mehr elek­trisch betriebene Busse und ein rascher Ausbau der Radwege. Die Schaffung von Super Bicycle Highways ist eines von Khans Lieblingsprojekten – tatsächlich ist die City, der histo­rische Londoner Stadtkern, dank Radwegen ­inzwischen oft schneller zu erreichen als mit öffent­lichen Verkehrsmitteln. Um mehr Londoner zum Umsatteln zu bewegen, veranstaltet die Verkehrsbehörde Transport for London sogar Gratis-Fahrradunterricht für Erwachsene.

London belegt mittlerweile im Smart City Index der Beratungsagentur Roland Berger europaweit Rang zwei hinter Wien. Österreichs Hauptstadt gilt als vorbildlich bei vernetzten Lösungen für Mobilität und Umwelt, die zentral von der Smart City Agency gesteuert werden. London wird für Initiativen gelobt, die den Umweltschutz effektiver machen; so findet man entlang der Themse an Parkbänken Luftqualitätssensoren und an Strassenlaternen WLAN-Spots und Ladepunkte für Elektrofahrzeuge.

Dass Khan den Kampf für bessere Luft so ernst nimmt, hat auch mit seiner persön­lichen Leidensgeschichte zu tun: Als er 2014 für den London Marathon trainierte, joggte er die viel befahrenen Strassen der Stadt entlang – und erlitt plötzlich Atemnot. Die Diagnose war niederschmetternd: Er hatte im Alter von 43 Jahren Asthma entwickelt. Zuvor hatte er jede Woche Fussball gespielt und hatte gute Fitnesswerte. Heute muss er Asthma-Inhalatoren und Tabletten nutzen. An Orten mit viel Verkehr, so sagt er, spüre er immer noch hin und wieder Atemnot.

Die für ihn wichtigere Inspiration für seine konsequente Politik sei allerdings, so Khan, der Tod eines Mädchens, dessen Schicksal 2013 landesweit für Schrecken sorgte: Ella Adoo-Kissi-Debrah war nach einer ­schweren Asthmaattacke gestorben. Die Neunjährige wurde in den drei Jahren zuvor fast 30-mal ­wegen Atembeschwerden im Krankenhaus ­behandelt. Ihre Wohnung lag an einem viel ­befahrenen Strassenring im Stadtteil Lewisham im Südosten Londons.

„Ich bin Londoner, Europäer, Brite, Engländer, ein Mann islamischen Glaubens, asiatischer Herkunft, pakistanischer Abstammung, ein Vater und Ehemann.“

Sadiq Khan

Später urteilte die britische Justiz in ­einem bisher beispiellosen Urteil, dass die ­Luft­verschmutzung in London zum Tod des Mädchens „wesentlich beigetragen“ hab – denn Ella sei „Stickstoffdioxidwerten aus­gesetzt“ ­gewesen, die „über den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation lagen“, so der Richter. Laut einer Studie des Imperial College London sterben jedes Jahr 4.000 Londoner an den Folgen von Luftverschmutzung.

Khans Karriere erzählt nicht nur von poli­tischer Beharrlichkeit, sie steht auch für einen ­erstaunlichen Aufstieg. Geboren wurde Khan 1970 in London, nachdem seine Eltern kurz zuvor aus Pakistan eingewandert waren. Mit sieben Geschwistern wuchs er in einer Sozialwohnung im Einwandererviertel Tooting in Süd-London auf. Sein Vater arbeitete als Busfahrer und lenkte die berühmten roten Doppeldeckerbusse durch die Stadt, seine Mutter arbeitete als Näherin.

Als Schüler begeisterte sich Khan für ­Naturwissenschaften und wollte Zahnarzt ­werden – bis ihm ein Lehrer das ­Jura-Studium empfahl. Khan war durch sein Talent fürs ­Debattieren und seine rhetorischen Fähig­keiten aufgefallen. Bereits als Teenager trat Khan der Labour-Partei bei; nachdem er als Menschenrechtsanwalt gearbeitet hatte, zog er mit Mitte 20 in den Stadtrat des Londoner Bezirks Wandsworth ein und später für den Wahlkreis Tooting ins britische Unterhaus. Als Verkehrsminister in Tony Blairs Labour-Regierung war Khan der erste Muslim in einer britischen Regierung.

Zusammen mit seiner Frau Saadiya, die ebenfalls Anwältin ist, und den beiden Töchtern lebt Khan immer noch in Tooting. Durch seine Wurzeln und seinen Ehrgeiz verkörpert er auch das Aufstiegsversprechen, das die Metropole ­Zuwanderern bietet – und er steht auch für das kosmopolitische und tolerante Flair des Melting Pots London.

Khan ist gläubiger Muslim, er betet fünfmal am Tag, trinkt keinen Alkohol, fastet im Ramadan. Gleichzeitig spricht er sich stets gegen konservative Lesarten des Islam aus. Er machte sich früh für die sogenannte Homoehe stark und bezeichnet Extremismus als „Krebsgeschwür“.

Als Bürgermeister eröffnet Khan Strassen­paraden im Szeneviertel Soho, feiert mit der ­Londoner Queer-Community und bringt Juden und Muslime am Ende des Ramadan zum Fastenbrechen zusammen. Nicht allein wegen seiner Verkehrs- und Umweltpolitik wird er bedroht, er bekommt auch wegen seiner liberalen reli­giösen Ansichten Morddrohungen. Für Radikale jedes ­Lagers scheint der Mann der politischen Mitte als Feindbild herhalten zu müssen – darum ist Khan ­paradoxerweise meist im gepanzerten Land­rover-SUV in der Stadt unterwegs.

Khans Geschichte erzählt daher auch von der Radikalisierung des politischen Diskurses. Sein Vorgänger Boris Johnson war stets mit dem Fahrrad unterwegs und konnte sich frei bewegen. Der Mann mit dem blonden Wuschelkopf war das beliebte und exzentrische Gesicht der Stadt. Johnsons Beliebtheitswerte sanken allerdings ­rasant, nachdem er sich als Guru des Pro-Brexit-­Lagers neu erfunden hatte: Beim Referendum zum EU-Ausstieg sprach sich London mit grosser Mehrheit für den Verbleib in der Euro­päischen Union aus.

Die Hetze gegen Khan befeuerte auch seine Online-Fehde mit Donald Trump, die seit ­Jahren für Schlagzeilen sorgt. Khan und der Ex-Präsident sind sich in gegenseitiger Abneigung verbunden und tragen ihre Konflikte über die so­zialen und klassischen Medien aus. 2016 nannte Trump London als Negativbeispiel für die Folgen unkontrollierter Einwanderung: Wegen der muslimischen Immigranten sei die Stadt nicht mehr wiederzuerkennen, so der Republikaner.

Khan nahm den Fehdehandschuh auf und erwiderte: Trumps Äusserungen seien „ignorant“ und „rassistisch“. 2019, kurz bevor Trump als Präsident zu einem Staatsbesuch nach London kam, beschimpfte er das Londoner Stadtoberhaupt als „eiskalten Verlierer“ und „sehr dumm“. Angesprochen auf die Attacke kontert Khan heute mit Verweis auf seine Wahlerfolge: „Er hat mich einen kalten Verlierer genannt. Ich habe dreimal gewonnen. Wie oft hat er gewonnen?“ Dass Trump möglicherweise im kommenden ­Januar erneut ins Weisse Haus einziehen könnte, sei „besorgniserregend“, sagt Khan.

Khan ist stolz auf seine Herkunft und beschreibt sich als Produkt des Melting Pots: Er sei „Londoner, Europäer, Brite, Engländer, ein Mann islamischen Glaubens, asiatischer Herkunft, pakistanischer Abstammung, ein Vater und Ehemann“. Die Welt des 21. Jahrhunderts, so schrieb die New York Times einmal über den Bürgermeister, werde von Menschen mit solch vielschichtigen Identitäten geprägt sein – und von den boomenden Städten, die genau diese Vielfalt feiern.

Unter Umweltschützern und ­Klimaaktivisten gilt Khan als „progressiver Politiker“, der den Kampf gegen den Klimawandel ernst nimmt. Doch inwiefern tragen seine Pläne auch zur Spaltung bei? Interessengruppen, darunter Einzelhändler und Handwerkerverbände, sehen Khans Pläne weiterhin kritisch. Nur dem motorisierten Fahrzeug den Kampf anzusagen sei noch keine Lösung, es brauche ganzheitliche Konzepte für die Mobilität und den Zugang zur Innenstadt.

Was Khan beim Thema ­Verkehrspolitik oft unerwähnt lässt, ist der Bau des 2,2 Mrd. Pfund teuren Silvertown-Tunnels unter der Themse. Der Bau, der gleich neben seinem ­Amtssitz liegt, soll das Süd- und Nordufer des Flusses ver­binden. Lokale Gemeinden sagen, die Abgas­belastung werde dadurch nicht reduziert, sondern zunehmen, weil vor allem Schwer­transporte und Laster die Vorstädte verstopfen. Auch werden offenbar weniger öffentliche Busse durch den Tunnel fahren als ursprünglich geplant. Tunnelgegner sagen, das Infrastrukturprojekt verstosse gegen Khans eigene Klimapolitik.

Durch den Tunnel soll zumindest teilweise der Verkehr von Trucks, Bussen und Autos in den Untergrund verlegt werden; an der Ober­fläche soll mehr Platz für die Begrünung der Stadt ent­stehen. Khan will Millionen Bäume pflanzen, ­Vögel und Fledermäuse ansiedeln, Blumen zum Bestäuben setzen. London hat schon heute mehr Parks als jede andere Grossstadt in Euro­pa und etwa so viele Bäume wie Einwohner – acht Millionen. Wegen der hohen Zahl an Bäumen auf der begrenzten Fläche ist London nach einer ­Definition der Vereinten Nationen technisch gesehen keine Stadt – sondern ein Wald. Khan geht das aber noch nicht weit genug: Dass sich im vergangenen Jahr wieder Biber im Stadtgebiet angesiedelt haben, feiert er als grossen ­Erfolg. Sein nächstes Ziel ist die Reinigung der schwer mit Abwasser belasteten Themse. In ­Paris ist die Seine inzwischen sauber genug, um darin Schwimmwettkämpfe zu veranstalten – wie in diesem Sommer bei den Olympischen Spielen. In zehn Jahren, so Khan, sollen die Londoner auch in der Themse schwimmen können.

Dafür müsste Khan aber noch dreimal im Amt bestätigt werden. Seine aktuelle Amtszeit wird noch vier Jahre dauern. Früher könnte ein weiteres Projekt gelingen: Khan will die Oxford Street, Londons berühmte Shoppingmeile, zur Fussgängerzone umbauen – und natürlich auch dort Bäume pflanzen. Auch diese Umweltzone ist hoch umstritten: Ein konservativer Politiker der Stadtgemeinde von Westminster erklärte, Khan drücke mal wieder seine Pläne durch und zwinge der lokalen Bevölkerung seinen Willen auf.

Khan wird sich auch diesem Konflikt ­stellen, mit seiner ruhigen und beharrlichen Art. Den besten Ratschlag, sagte er einmal, habe er von ­seinem Vater erhalten: „Du musst doppelt so hart arbeiten, um halb so viel Anerkennung zu bekommen.“ Das galt während seines Aufstiegs zu Londons Stadtoberhaupt – und diese Weisheit scheint auch das Motto hinter Khans Umwelt­politik zu sein.

Fotos: Greater London Authority

Reinhard Keck

Up to Date

Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.