Chancen nutzen

Der weibliche Anteil an der TU Wien ist nach wie vor gering. Wir haben Rektorin Sabine Seidler gefragt warum.

Sabine Seidler hat eine klare Vorstellung davon, wie Dinge ablaufen. Das bemerkt man sogleich, wenn man ihren Büroraum im ersten Stock der Technischen Universität Wien (TU) betritt. Sie strahlt Erfahrung aus, ihre Antworten gibt sie mit Bedacht. Wenn ihr etwas nicht ins Konzept passt, spricht sie es direkt an. Im Vorraum ihres Büros hängen unzählige Ölgemälde früherer TU-Rektoren; 107 sind es an der Zahl, allesamt Männer. Seidler ist die erste Frau, die dieses Amt innehat – seit 2011 ist sie Rektorin der TU Wien.

Damit gerechnet, diese Position einmal zu bekleiden, hat die 56-Jährige aber nicht. Vielmehr war es das Ergebnis eines natürlichen Karriere­verlaufs, wie sie erzählt: „Um das ganz klar zu sagen: Ich bin eine Werkstoff-Verrückte. Das ist eines der spannendsten Dinge, die man sich überhaupt vorstellen kann. Und wenn man derart viel Freude daran hat, arbeitet man viel, und das eröffnet Karrierewege.“

Ihren Weg verfolgte Seidler, die im ostdeutschen ­Sangerhausen in Sachsen-Anhalt aufwuchs, stets hartnäckig. Sie studierte Werkstoffwissenschaften an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg, samt Promotion, danach arbeitete sie sieben Jahre an der Martin-Luther-Universität­ Halle-Wittenberg am Institut für Werkstoffwissenschaft. 1996 gelang der nächste Karrieresprung: Seidler wurde als Professorin für Nicht­metallische Werkstoffe an die TU Wien berufen. Damit war sie die erste Professorin an der 1815 gegründeten Universität. Dafür musste Seidler aber auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, wie sie sagt: „Bei einer wissenschaftlichen Qualifikation kann man seine eigenen Schritte immer beeinflussen, denn wenn man eine Promotion oder Habilitation plant, tut man das. Bei der Karriere ist das schon schwieriger.“

Sabine Seidler (56)
Die gebürtige Deutsche studierte Werkstoffwissenschaften an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg, wo sie auch promovierte. Anschliessend arbeitete sie sieben Jahre lang an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am Institut für Werkstoffwissenschaften. 1996 wurde sie Professorin an der Fakultät für Maschinenwesen und Betriebswissenschaften der TU Wien,
1997 habilitierte sie sich. Seit 2011 ist sie Rektorin der TU Wien.

2009 stellte sie als ­Vizerektorin für Forschung und ­Internationales ­einen neuen Entwicklungsplan auf die Beine, zur „führenden Forschungsuniversität“ wollte sie die TU Wien machen. Bereits damals liess sich ihr Ruf mit „ausgezeichnet, eine ausgewiesene Forscherin“ – Zitat: Rektoren-Vorgänger und Förderer Peter Skalicky – zusammenfassen. Einer der zentralen Aspekte war dabei die Verringerung der Forschungsschwerpunkte von 32 auf fünf – diese konzentrieren sich auf die ­ingenieur- und naturwissenschaftlichen Fächer mitsamt Spezialisierungen: „So haben wir eine bessere Vernetzung der Forschungsaktivitäten innerhalb des Hauses erreicht, der Prozess ist aber noch nicht abgeschlossen,“ sagt sie heute. Zwei Jahre später, 2011, folgte schliesslich die Ernennung zur Rektorin.

Wie betrachtet Seidler ihren Impact seit damals? „Wir waren 2011 in einer sehr schwierigen finanziellen Situation. Ich bin froh, dass wir es geschafft haben, die TU Wien weiterzuentwickeln und besser zu positionieren. Besonders stolz bin ich darauf, den Rückhalt vieler im Haus zu spüren.“ Unter einer besseren Positionierung versteht die Werkstoffwissenschafterin ein gewisses internationales Standing, die Ver­besserung der Forschungsleistungen sowie entsprechende Uni-Rankings. Der Statistik zufolge machte die TU Wien in den vergangenen Jahren tatsächlich einiges an Boden gut: So kletterte die Universität laut dem QS University Ranking 2018 von Platz 274 im Jahr 2012 auf Rang 182 in diesem Jahr.

Wo die TU Wien jedoch Nachholbedarf hat, ist die Anzahl der weiblichen Studierenden. Eigentlich sollte das Interesse an Studienfächern wie Technischer Physik oder Elektrotechnik keine Frage des Geschlechts mehr sein. Möchte man meinen. Doch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Im Vergleich zum Jahr 2009 ist die Zahl der Studentinnen bis zum Jahr 2014/2015 zwar um zwei Prozent auf 27,1 gestiegen. Dennoch: „Das ist eindeutig zu wenig, weil hier viel Potenzial schlummert, das nicht abgerufen wird. Diese Zahlen verschleiern aber die Spreizung des Frauenanteils. Denn bei der Archi­tektur haben wir mittlerweile über 50 Prozent. Bei den Beginnerinnen bei den technischen Studien sind es aber nur 14 bis 15 Prozent; im Gesamtdurchschnitt rund 28 Prozent.“ Insgesamt bietet die TU Wien 13 Bachelorstudiengänge an, bei derzeit 29.377 Studierenden.

Als Gründe nennt die TU-Wien-­Rektorin zweierlei Aspekte: erstens die Akzeptanz von Technik im Allgemeinen und zweitens das Verhältnis von Technik und Frauen. „Also die gesellschaftlichen Stereo­type, die hier nach wie vor durchschlagen. Dazu gibt es die soziale Komponente: Wenn man etwas weiter aus der Stadt hinausgeht, ist die Beschäftigung der Frau nach wie vor ein heiss diskutiertes Thema.“ Seidler zeigt sich auch durchaus selbstkritisch: „Wir schaffen es bisher nicht ausreichend, zu kommunizieren, dass die ingenieurwissenschaftlichen Berufe nicht mehr die klassischen sind, also etwa Maschinenbau nicht mehr bedeutet, mit einem Schraubenschlüssel und im Blaumann mit viel Muskelkraft zu arbeiten.“

Ich bin eine Werkstoff-Verrückte. Wenn man derart viel Freude daran hat, arbeitet man viel und das eröffnet Karrierewege.

Stellt sich also die Frage: Welche konkreten Stereotype befeuern die Studien- und Berufswahl – und besonders: Warum? Mit dieser Thematik setzte sich auch die 2012 veröffentlichte SORA-Studie „Frauen und Mädchen in technischen Berufen“ auseinander. Sie bestätigt Seidlers These: Welchen Karriereweg ein Mädchen oder eine junge Frau einschlägt, hängt stark von den Geschlechterstereotypen ab. Dazu verliere die Wirtschaft Frauen in technischen Berufen in den verschiedensten Lebensphasen – von der frühen Kindheit bis zur Erwerbs­karriere. Besonders macht die Studie auf die sogenannten „Bruchstellen“ aufmerksam, an denen Frauen die technische Sozialisation verlassen: Einfluss des sozialen Umfelds, Role ­Models, ­Berufsorientierung, Spon­soring, Minderheitenstatus von Frauen in technischen Berufen, Unternehmenskultur. Gefordert werden Mentoring- und Förderungsprogramme, Role Models sollten für junge Frauen „erreichbar sein“.

Sieht sich Seidler denn als ein solches? „Ich wollte das nie sein. Man wird das per definitionem, wenn Sie als Frau in einer gewissen Position sichtbar werden. Die Frage ist nur: Wie geht man damit um? Am Anfang hat mich das sehr gestört, weil ich mein Leben als nichts Besonderes sehe.“ Diese Aussage passt gut in das Bild, das Seidler im Verlauf des Gesprächs vermittelt. Es geht ihr nicht darum, im Rampenlicht zu stehen, vielmehr darum,  durch Leistung zu überzeugen. Davon will sie auch Studierende überzeugen. Seit 2015 verleiht die TU Wien den Frauenpreis an Absolventinnen, die sich, so Seidler, durch „besondere“ Leistungen hervorgetan haben. „Unser Ziel ist es, diese jungen Frauen vor den Vorhang zu holen, um sie für andere sichtbar zu machen.“

Mentoringprogramme, wie in der SORA-Studie erwähnt, veranstaltet die TU Wien auch. Im Rahmen von Stammtischen im Bauingenieur­wesen und in der Elektrotechnik werden ­Studien-Anfängerinnen unterstützt, Netzwerke aufgebaut. Seit 20 Jahren gibt es zudem einmal pro Jahr die FIT-Infotage, wo Schülerinnen die Chance bekommen, sich bei den Studentinnen über die Studienwahl zu informieren. „Das ist ein grosser Unterschied dazu, wenn ich als Respekts­person und mit grossem Altersunterschied in die Schulen gehe.“

Stichwort: Schulen. Laut Seidler würden verschiedene Studien belegen, dass es beim technischen Interesse im Alter von zwölf Jahren keinerlei Unterschied zwischen Jungen und Mädchen gebe. Bis zum Alter von 17 Jahren gehe das Interesse bei Frauen aber verloren. Deshalb müsse man bereits früh ansetzen: „Also vom Kindergarten bis zum Studium, etwa in Form von Mitmach-Labors. Um zu zeigen: Ihr braucht keine Angst zu haben, egal ob das ein Computer oder Motor ist. Wenn du weisst, wie es funktioniert, kannst du es auseinander- und wieder zusammenbauen.“ Seidler geht es aber nicht darum, auf Defizite aufmerksam zu machen: „Wir sind alle unseres eigenen Glückes Schmied. Die Angebote, die es gibt, sollte man ergreifen, wenn man sie für sie notwendig erachtet. Wenn nicht, dann nicht. Ich versuche zu vermitteln, selbstbewusst zu sein.“

In Zukunft werden auf die TU Wien aber noch andere Herausforderungen zukommen. Denn die Debatte rund um die bedarfsorientierte Studienplatzfinanzierung ist derzeit voll im Gange. Die entsprechende Gesetzesvorlage befindet sich in Begutachtung, die Frist endet am 14. September. Unibezogene Zugangsbeschränkungen wird es an der TU Wien wohl aber nicht geben: „Es wird uns nicht gestatten werden.“ Konkreter Nachsatz: „Aber ich könnte es mir vorstellen. Unser gesamtes Stu­diensystem ist nachfrageorientiert.
In der Architektur haben wir doppelt so viele Beginner wie Ressourcen. Wir sind nicht einfach so in der Lage, Ressourcen zu verdoppeln. Deshalb braucht es Instrumente, die es uns ­ermöglichen, unsere Aufgaben entsprechend wahrzunehmen.“

Eine Lösung finden wird Seidler aber allemal: „Auch als Rektorin bin ich Wissenschafterin geblieben. Die Herangehensweise, Probleme zu lösen, ist dieselbe. Es geht um eine Analyse des Problems, darum, Lösungs­ansätze zu finden und diese dann umzusetzen.“

Dieser Artikel ist in unserer September-Ausgabe 2017 „Women“ erschienen.

Niklas Hintermayer,
Redakteur

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