Anna Springinsfeld

Mit 18 Jahren begann Anna Gasser mit dem Snowboarden, acht Jahre später ist sie eine der weltweit besten Big-Air- und Slopestyle-Fahrerinnen der Welt.

Wie das geht? Mit viel Spass am Sport, dem passenden Background – und einem Sprungturm.
Da sollte man schon wissen, wie man springen muss“, sagt Anna Gasser und zeigt hinter sich. Wer Gasser kennt, stellt sich jetzt wohl bildlich eine aus Schnee gebaute Sprung­schanze hinter der Sportlerin vor. Doch die Snowboarderin zeigt vielmehr auf einen Sprungturm am Rand des Millstätter Sees. Denn Gasser verbrachte in ihrer Kindheit viel Zeit auf diesem Turm und sprang mit den anderen Kindern von dem – mit Geländer – über zehn Meter hohen Bauwerk, wie es ihr gerade einfiel.

Heute ist der Turm gesperrt, ein Unfall bereitete dem Betrieb aus Sicherheitsgründen ein jähes Ende. Dass wir unser Fotoshooting dennoch auf dem höchsten Podest absolvieren können, verdanken wir einem glücklichen Zufall – doch dazu später mehr. Denn erst einmal gilt es, Anna Gasser all jenen vorzustellen, die den Wintersport nicht so regelmässig verfolgen. Die Snowboarderin ist eine der weltbesten Fahrerinnen, reist um die Welt und zeigt ihr Können bei diversen Bewerben. Ihre Parade­disziplin ist „Big Air“, also das Springen über einen grossen Kicker (Sprungschanze, Anm.) mit möglichst spektakulären Figuren. Doch auch im Slopestyle macht die Kärntnerin gute Figur; dabei werden auf einer kurzen Strecke diverse Hindernisse wie Rails oder mehrere kleinere Schanzen befahren.

Gassers Track Record kann sich sehen lassen: Sie errang 2018 die Goldmedaille im Big-Air-Bewerb bei den Olympischen Spielen in Südkorea, holte bei der Weltmeisterschaft 2015 Silber und 2017 Gold und ist zweifache Gewinnerin der X-Games (dazu kommen noch eine Silber- und eine Bronzemedaille ebendort). Im Dezember 2017 folgte die Auszeichnung zu Österreichs Sportlerin des Jahres – als erste Snowboarderin überhaupt. Der Erfolg ist umso ungewöhnlicher, als Gasser ihre Kindheit keinesfalls am Berg verbrachte. „Ich war in meiner Kindheit eigentlich nie eine leidenschaftliche Wintersportlerin.“ Dieser Eindruck verstärkt sich auch beim Treffen in Millstatt. Denn das am See gelegene Dorf wirkt so überhaupt nicht wie die Heimat einer Star-Snowboarderin. Doch Gassers später Start scheint offensichtlich kein gravierender Nachteil zu sein. Sportlich gänzlich untätig war die Millstätterin in ihrer Kindheit sowieso nicht: „Hätte ich in meiner Kindheit nicht geturnt, hätte ich das alles nicht geschafft. Ich hatte eine gute Grundlage“, so die 27-Jährige.

Gassers Mutter ist Turnlehrerin, gewisse Fähigkeiten wurden ihr also in die Wiege gelegt. Trotz des Drucks, dem die Snowboarderin bei den Wettbewerben ausgesetzt ist, und ihrer steigenden Bekanntheit wirkt Anna Gasser zugänglich und unbeschwert. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass wir sie in einer Pause treffen. Gerade sei sie aus Bali zurückgekehrt, nun stehen noch einige Tage Heimat­urlaub auf dem Programm. „Es war in gewisser Weise eine Zwangspause, ich hatte eine kleinere Verletzung. Die meisten meiner Urlaube beruhen darauf, dass ich mich verletze“, sagt Gasser.

Damit gibt die Kärntnerin zu, dass sie sich nur wenige Pausen gönnt. Das sei etwas, sagt sie – plötzlich nachdenklich –, dass sie in den nächsten Jahren noch lernen müsse. Doch ganz negativ sieht sie die Ausfälle nicht. „Nach den Verletzungen geniesse ich jede Sekunde auf dem Board, trainiere besser.“ So folgte Gassers Erfolgssträhne 2017, wegen der sie letztendlich auch zur Sportlerin des Jahres gekürt wurde, ebenfalls einer längeren Verletzungspause. Das erinnert stark an andere Wintersportler, insbesondere an Skifahrer Marcel Hirscher, der nach seinem Knöchelbruch in der Vorbereitung die vergangene zu seiner besten Saison überhaupt machte.

Ich war in meiner Kindheit eigentlich nie eine leidenschaftliche Wintersportlerin.

Als wir Anna Gasser treffen, ist noch unklar, ob sie bei den (mittlerweile absolvierten) X-Games in Oslo antreten wird. „Dahinter steht noch ein Fragezeichen, es kommt auf meinen Fitnesszustand an.“ Letztendlich entscheidet sie sich, anzutreten – ein Fehler. Denn Gasser lädiert sich das Sprunggelenk beim Aufwärmen erneut, erreicht angeschlagen nur Rang sieben. Nun ist Gasser wieder zum Zusehen gezwungen. Und obwohl sie dem eben auch Positives abgewinnen kann, schläft die Kon­kurrenz nicht. Insbesondere die Ja­panerin Kokomo Murase sorgte zuletzt für Aufsehen, als sie die X-Games in Oslo gewann. Denn sie schlug Gasser nicht nur in dieser Hinsicht.

Anna Gasser war 2013 die erste Frau, die erfolgreich einen Double Cork 900 schaffte. Dieser Sprung ist eine Mischung aus Schraube und Backflip, die 900 stehen für 900 Grad, also zweieinhalb volle Um­­drehungen. Einige Jahre später war Katie Ormerod die erste Frau, die diesen Sprung in der 1080-Grad-Version sprang; Anna Gasser machte den Trick unter anderem bei den Olympischen Spielen dann zum Standard­repertoire. Doch Murase setzte nun einen oben drauf: Bei den X-Games zeigte sie einen Double Cork 1260, also noch eine halbe Drehung mehr. Und während Gasser erst mit 18 Jahren begann, zu snowboarden, ist Murase überhaupt erst 13 Jahre alt. Hartes Trainieren ist also weiter angesagt. Doch wie sieht ein solcher Trainingstag aus? Auch hier zeigt sich Gassers unbeschwerte Seite. Denn wer jetzt an Nächte im Fitnesscenter denkt, liegt falsch. „Wir haben nicht – wie die Skifahrer – einen genauen Plan. Es hängt stark vom Wetter ab. Bei Schönwetter sind wir den ganzen Tag am Berg und nutzen jede Sekunde aus. Sobald der Wind stärker wird oder die Sicht nicht passt, geht das Training schon schwierig voran.“

Das zeigte sich auch bei den Olympischen Spielen in Südkorea. Im Slopestyle war der Wind so stark, dass der Bewerb laut vielen Experten nie hätte stattfinden sollen. So wurde Gasser, wie viele andere Fahrerin­nen, ein Opfer der Witterung, musste sich mit Rang 15 begnügen. Gold holte die US-Amerikanerin Jamie Anderson, die als eine der wenigen für einen Start plädiert hatte. Doch Ende gut, alles gut: Gasser holte sich im Big Air Gold, fuhr also als Olympiasiegerin nach Hause. Während Anderson bei Gasser seitdem wohl nicht mehr ganz hoch im Kurs stehen dürfte, ist sie mit anderen Konkurrentinnen eng befreundet. Während das Training mit dem ÖSV (Österreichischer Skiverband, Anm.) im Rahmen des Weltcups oder durch die Teilnahme an Olympischen Spielen professionalisiert wird, bleibt Gasser nämlich auch genug Zeit, mit „Freundinnen aus anderen Nationen“ snowboarden zu gehen. Lässt sich das denn vereinen? „Das sind Konkurrentinnen und Freundinnen. Klar gibt es Konkurrenzkampf, im Bewerb schaue ich stärker auf mich. Aber ich kann mich mit vielen mitfreuen.“ Engen Kontakt pflegt Gasser etwa zu der Slowakin Klaudia Medlova, der Kanadierin Spencer O’Brien und der Finnin Enni Rukajärvi. „Wir sind so eine Vierer-­Mädelsgruppe, mit denen fahre ich in den Trainings oft gemeinsam.“ Wenn nicht auf der Piste geübt wird, besteht das „Trockentraining“ vor allem aus koordinativen Übungen, etwa auf dem Trampolin.

Springen üben – das bringt uns wieder zum Anfang, zu dem wir noch eine Erklärung schuldig sind: Denn mitten im Gespräch gesellt sich Annas Vater Peter zu uns, der als Versicherungsberater in Millstatt arbeitet. Als er hört, dass wir den Sprungturm für das Shooting erklimmen wollen, springt er auf und verschwindet. Wenig später kommt er mit einem Herrn zurück, der einen grossen Schlüsselbund dabeihat. In wenigen Augenblicken ist das Schloss offen und wir stehen inklusive Vater Peter auf dem Turm, der derzeit inaktiv ist – so wie Anna Gasser. Doch bei ihr dauert es hoffentlich nicht Jahre (der Sprungturm ist seit sieben Jahren gesperrt, Anm.). Denn es gilt, dem Nachwuchs zu zeigen, wer am besten springt.

Anna Gasser ist ein 30 Under 30 Alumni 2018. Mehr über Anna Gasser lesen.

Dieser Artikel ist in unserer Juni-Ausgabe 2018 „30 Unter 30“ erschienen.

Klaus Fiala,
Chefredakteur

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