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Sie wirtschaften abseits des grossen Scheinwerferlichts, sind jedoch oft die Besten ihrer Branche: Mitten in Berlin rücken im von Tobias Rappers geleiteten „Maschinenraum“ 20 traditionsreiche Familienunternehmen eng zusammen, um die digitale Transformation gemeinsam anzupacken – und ihre Potenziale gemeinsam besser sichtbar zu machen.
Über 100 Jahre alt ist jenes Gebäude im schicken Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, in dem sich der „Maschinenraum“ einquartiert hat. Die zinnoberroten Ziegelwände erinnern an die Produktionsstätte der Schuhfabrik Goldpunkt, die hier einst ihr Werk hatte. Zangen und Leisten sind jedoch schon lange verschwunden, der Betrieb hat die letzten Jahrzehnte nicht überdauert. Nun nutzen rund 20 Familienunternehmen das denkmalgeschützte Gebäude, damit ihnen genau das – ein Aussterben als mittelgrosses Produktionsunternehmen – nicht passiert. Der Maschinenraum ist eine Plattform vom deutschen Mittelstand für den deutschen Mittelstand. Die Idee: Familienunternehmen helfen einander bei der Digitalisierung.
Mehr als 99 % aller deutschen Unternehmen gelten als KMU – kleine und mittelgrosse Unternehmen. 91 % der Betriebe in Deutschland werden laut dem Institut für Familienunternehmen und Mittelstand der Otto Beisheim School of Management (WHU) von Familien kontrolliert; wiederum 87 % davon erkennen neue Potenziale zwar, aber nur 43 % sehen sich in der Lage, diese adäquat aufzugreifen. Der deutsche Mittelstand leidet also unter einem Umsetzungsproblem, das der Maschinenraum beheben möchte. Nachholbedarf gibt es auch bei neuen Technologien: Erst 38 % der Familienunternehmen nutzen Cloud Computing und nur 5 % setzen auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Anwendungen ein. Folglich bezeichnet nicht einmal jedes fünfte Familienunternehmen seine Neuentwicklungen als „bahnbrechend“.
Wer revolutionäre Geschäftsmodelle sucht, wird bei der Viessmann Group – einem der international führenden Hersteller von Klima- und Energielösungen – fündig. Wie die Räumlichkeiten des Maschinenraums blickt auch Viessmann auf eine mehr als 100 Jahre alte Geschichte zurück; über 12.000 Mitarbeiter erwirtschafteten 2019 einen Gesamtumsatz von 2,65 Milliarden €. Seit dem Generationenwechsel 2018 leitet Max Viessmann mittlerweile das operative Geschäft, das er von seinem Vater Martin übernahm. Mit Konzepten wie „Viessmann Wärme“ gilt er als einer der Vordenker der digitalen Transformation und der Energiewende: Als Alternative zum klassischen Heizkesselkauf mieten Kunden etwa einen Wärmeerzeuger, gebündelt mit allen nötigen Dienstleistungen. Viessmann übernimmt damit nicht nur die Rolle des Herstellers, sondern tritt als laufender Vertragspartner in Geschäftsbeziehungen mit seinen Endkunden ein.
Der 31-Jährige imponierte mit seinen schnellen Schritten in Sachen Digitalisierung auch Tobias Rappers. Als sich die beiden kennenlernten, war Rappers bereits seit mehr als sieben Jahren für die Unternehmensberatung Roland Berger tätig und leitete den Spielfeld Digital Hub, eine Initiative von Roland Berger und Visa, um die beiden Unternehmen und deren Kunden mit der jungen Wirtschaft zu vernetzen. Rappers ist nur drei Jahre älter als Viessmann und selbst im Dunstkreis einer Unternehmerfamilie aufgewachsen. „Max Viessmann war überzeugt, dass wir uns in einem industrieübergreifenden Ökosystem gemeinsam viel besser auf Zukunftsthemen vorbereiten können. Er plante eine Plattform, bei der man sich Wissen, Erfahrung, Infrastruktur und Ressourcen teilt, um die Zukunft mutig gestalten zu können. Natürlich war es für mich total naheliegend, diesen Teil der Geschichte mitzuschreiben“, sagt Rappers.
Für März 2020 war die Eröffnungsfeier des 20 Tennisplätze grossen Maschinenraums geplant – Corona machte dem 15-köpfigen Team einen Strich durch die Rechnung. Rappers sieht die aktuellen Entwicklungen dennoch positiv für das eigene Projekt: „Corona ist ein starker Katalysator und hat gezeigt, wie wichtig Digitalisierung ist.“ Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine Handvoll Unternehmen auf sieben Etagen aktiv, darunter auch die Viessmann-Gruppe selbst, die den Maschinenraum als 100-Prozent-Tochter führt. Rappers hat bei der Leitung der Plattform jedoch freie Hand.
Tobias Rappers
...studierte BWL in Eichstätt, Leipzig, Stellenbosch (Südafrika) und Kozhikode (Indien). Nach dem Studium dockte er bei der Unternehmensberatung Roland Berger an, wo er ab 2016 Managing Director der Spielfeld Digital Hub GmbH war. Im August 2019 übernahm er die operative Leitung des „Maschinenraums“.
So wie das Gebäude über mehrere Jahre restauriert und umgebaut wurde, um seine Identität zu bewahren, so wollen auch die hier ansässigen Familienunternehmen Tradition mit Moderne verbinden. „Wir wollen nicht alles neu machen und die Herkunft der Unternehmen verleugnen, sondern sie geschmeidig in eine neue Welt führen“, betont Rappers. „Wer in einem Familienunternehmen aufwächst, merkt schnell, dass hier ein eigener Spirit herrscht. Man denkt nicht in Quartalsberichten, sondern in Generationen. Geschäftsführer in Familienbetrieben sind Unternehmer und keine Manager. Das ist der Unterschied zu Konzernen, wo es mandatierte CEOs gibt: Durch die schwächere Shareholder-Position von Konzern-CEOs sind weniger langfristige Entscheidungen möglich.“
Die 20 Mitglieder kommen aus den verschiedensten Industrien. Mit an Bord sind etwa das Logistikunternehmen Fiege, der Baustoffhändler Tilcra, der Aufzughersteller Vestner, die Druckerei Appl oder die Paracelsus-Kliniken. Für ihre Zusammenarbeit gehen die Familienunternehmen gemeinsam „unter Deck“ – denn der Eingang liegt im Kellergeschoss. „Der Maschinenraum ist das, was das Schiff antreibt. Von aussen ist er aber gar nicht richtig sichtbar. Auch bei uns gibt es viele Zahnräder, die ineinandergreifen, um die Familienunternehmen im Hintergrund voranzubringen“, sagt Rappers. Als Managing Director sehe er sich aber eher als Kurator denn als Kapitän: „Wir wollen die richtigen Leute mit den richtigen Themen verknüpfen.“
Geschäftsführer in Familienunternehmen sind Unternehmer und keine Manager.
Wer dabei sein will, muss das passende Mindset mitbringen. „Der Maschinenraum ist als Plattform nur so gut, wie die Unternehmen bereit sind, ihr Wissen mit anderen zu teilen. Es muss im Kopf schon vorher ‚klick‘ machen. Hier schliessen sich die willigen Familienunternehmen des neuen Denkens zu einem zukunftsorientierten Netzwerk zusammen“, sagt Rappers. Die Entscheidung will tatsächlich wohlüberlegt sein, da viele eingespielte Routinen in traditionellen Unternehmen veraltet sind und angepasst werden müssen. Die Baustellen erstrecken sich oft über das ganze Kapillarsystem der Organisationen. Neue Mitglieder werden nicht klassisch akquiriert – es komme nicht auf die Anzahl der Logos auf der Website an. Vielmehr stellen die Familienunternehmen aufgrund von Empfehlungen selbst Kontakt zum Maschinenraum her. Zum Umsatz der Plattform will Rappers keine Angaben machen. Die Mitglieder – die für eine Jahresmitgliedschaft entweder 15.000 oder 25.000 € bezahlen, je nach Paketgrösse – sollen im Vordergrund stehen. Eine Annäherung ergibt bei 20 Mitgliedern jedoch eine Bandbreite von 300.000 bis 500.000 € an Einnahmen für die Viessmann-Tochter. Rappers betont, dass ein Mitgliedsbeitrag ein guter Reifetest für die Teilnehmer sei: „Wer bereit ist, in seine Innovationskraft zu investieren, zeigt, dass er sich das gut überlegt hat“, sagt Rappers.
Als Rappers Anfang des letzten Jahrzehnts bei Roland Berger als Berater begann, stand das Thema Digitalisierung erst auf wenigen Vorstandsagenden. Auch damals begleitete er jedoch schon Kunden – darunter den Autohersteller Daimler – bei der digitalen Transformation. In die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle fliesst viel von Rappers’ Know-how aus der Strategieberatung ein. „Im Vergleich zu Grosskonzernen sind Familienunternehmen oft sehr fokussiert, wenn es darum geht, neue Themen auszuprobieren. Bei der Umsetzung fehlt es aber häufig an Ressourcen und Fähigkeiten.“ Im Maschinenraum hat man deshalb einen systematischen, 100-tägigen Prozess zur Validierung von Ideen entwickelt. Zur Überbrückung der Defizite im Bereich der Fähigkeiten verfolgt Rappers einen einfachen Ansatz: „Wir teilen uns externe Dienstleister, Programmierer und Designer. Das spart Transaktionskosten.“ Wichtig sei aber auch hier, dass die Dienstleister zur Kultur der Familienunternehmen passen. „Wenn ich im Berliner Ökosystem nach einem Dienstleister suche, kann es sein, dass dieser für Delivery Hero oder Zalando sehr erfolgreich arbeitet und fachlich perfekt ist. Das heisst aber nicht, dass er in die Struktur und Harmonie eines Familienunternehmens passt.“
Rappers sieht die Synergieeffekte zwischen seinen Mitgliedsunternehmen als grosse Chance für einen starken Mittelstand: „Wenn wir es schaffen, Familienunternehmen fit für die Zukunft zu machen, indem sie sich gegenseitig helfen, dann hilft das nicht nur den Unternehmen, sondern der gesamten Wirtschaft in Deutschland und Europa. So gestalten wir die Digitalisierung.“
Text: Marcel Kilic
Foto: Jasmin Schuller
Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 10–20 zum Thema „Handel“.