DER CYBORGMACHER

Eine Handprothese, ein Cochlea-Implantat oder ein Herzschrittmacher: Die moderne Technologie hat schon den ein oder anderen Menschen unfreiwillig zum Cyborg gemacht. Doch lassen sich bald auch gesunde Menschen Technik in ihren Körper implantieren? Wir sprachen mit Vincent-CEO Stefan Schulz über die technischen Möglichkeiten von Handprothesen und lassen uns von Enno Park – einem echten Cyborg – erklären, warum wir theoretisch eigentlich alle schon längst Cyborgs sind.

1715 gegründet, hat sich Karlsruhe über die Jahre den Titel „Residenz des Rechts“ erarbeitet. Das liegt daran, dass die Stadt im Südwesten Deutschlands nicht nur Sitz des Bundesgerichtshofs und des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof ist, sondern auch das Bundesverfassungsgericht beheimatet. Doch in anderer Hinsicht könnte man die Stadt auch als „Residenz der Technologie“ bezeichnen. Denn rund um das Karlsruhe Institute of Technology (KIT) hat sich ein Cluster gebildet, der an den grossen Fragen unserer Zukunft forscht. Mittendrin: Stefan Schulz mit seinem Unternehmen Vincent Systems.

Vor 13 Jahren als „One-Man-Show“ gegründet, hat Vincent Systems heute 25 Mitarbeiter, mit denen laut Schulz ein „achtstelliger Jahresumsatz“ erwirtschaftet wird. Das Produkt: Langlebige, moderne Handprothesen. Das Ziel von Schulz ist es nämlich, Prothesen zu entwickeln, die tatsächlich benutzt werden können. Mit ihnen sollen ihre Träger Flaschen aufmachen, Brot schneiden und Knöpfe aufheben können. Dass dies für Betroffene vor 2009 nicht möglich war, lässt sich heute nur schwer glauben. „Wir sind weltweit die ersten, die myoelektrisch gesteuerte Teilhandprothesen anbieten, bei denen jeder Finger wieder individuell bewegt werden kann. Davor hat sich ausserhalb der akademischen Forschung nicht wirklich jemand dafür interessiert, weil der Markt für Handprothesen einfach zu klein und das zu lösende Problem, zu Ende gedacht, sehr anspruchsvoll ist“, erklärt Stefan Schulz. Ihr Äusseres wirkt futuristisch, der Gebrauch der Prothesen ist aber für Bodenständiges ausgelegt. Die modernen Roboterhände sollen Menschen den Gebrauch ihrer alten Hand oder verlorener Finger so gut wie möglich zurückgeben.

Wie wichtig die mechanische Fähigkeit der Hände ist, erfuhr Schulz selbst, als er ein Jahr als Maschinenwart auf einem Kreuzfahrtschiff tätig war. Das Wissen, das später in Vincent Systems mündete, eignete er sich jedoch anderswo an: Nach einem Studium der Elektrotechnik an der Universität Rostock promovierte er an der Universität Karlsruhe im Bereich Maschinenbau. Anschliessend war er 20 Jahre lang in leitender Tätigkeit einer interdisziplinären Forschungsgruppe am KIT als Spezialist für Robotik und Medizintechnik aktiv. „In unserer Handprothese steckt Wissen und Erfahrung aus über 24 Jahren Hightech-Forschung“, so Schulz.

Die Handprothesen von Stefan Schulz sind also anders. Sie sehen nämlich auch nicht aus wie menschliche Hände. Andere Hersteller überziehen ihre Prothesen oft mit hautfarbenen Silikon-Handschuhen, um sie möglichst gut an den Farbton des menschlichen Körpers anzupassen. Vincent Systems stellt seine Prothesen aus eloxiertem Aluminium oder wahlweise Titan her, die mit Silikon verkleidet in verschiedenen Farben zur Verfügung stehen. Auf Wunsch können die Prothesen mit Textilhandschuhen überzogen werden. „In natura“ sehen sie jedoch wie Roboterhände aus, wie man sie schon so oft in Film und Fernsehen gesehen hat. Und das verkauft sich? „Ja!“, meint Stefan Schulz und erklärt: „Die Einstellung der Gesellschaft und der Patienten zur Technologie hat sich verändert. Die meisten wollen ihre Prothesen nicht mehr verstecken, sondern sind stolz auf die Technologie, die sie am Körper tragen.“

„Die meisten wollen ihre Prothesen nicht mehr verstecken, sondern sind stolz auf die Technologie, die sie am Körper tragen.“

Stefan Schulz

Nicht nur die Mentalität der Prothesen-Träger hat sich verändert, sondern auch die Technologie, die sie tragen. So können die Handprothesen mit den immer noch vorhandenen Muskeln im Unterarm gesteuert werden. Mehrere Sensoren werden so an den Muskeln, die weiterhin bewegt werden können, angebracht, wobei der Muskeltonus die Finger der Prothesen steuert. „Wir waren unter anderem auch die Ersten, die eine myoelektrisch gesteuerte bionische Hand für Kinder und junge Erwachsene auf den Markt gebracht haben“, erklärt Schulz. Der Unterschied hierbei sind lediglich die Sensoren, welche statt auf dem Unterarm auf den vorhandenen Muskeln in der Hand platziert werden. „Wichtig für die Anwender ist, dass die Prothese schnell auf die Steuersignale reagiert und die programmierten Handbewegungen verlässlich durchgeführt werden.“ Hier lautet die Devise: Weniger ist mehr. Kann eine Prothese wenige Bewegungen gut und schnell durchführen, so ist der Patient dazu verleitet, die Roboterhand eher zu benutzen als seine andere, biologische Hand. „Es gibt Prothesen auf dem Markt, die laut Anleitung mehr als 20 Griffarten bereitstellen. In der Realität schafft der Anwender zwei bis drei davon schnell genug zu aktivieren, um sie in alltäglichen Situationen einfach verwenden zu können. Daher liegt ein grosser Mehrwert unserer Steuerungsstrategie darin, dass der Anwender bei gutem Training alle der 16 Griffarten jederzeit problemlos erreichen kann.“ Tatsächlich definiert sich Alltagstauglichkeit von Prothesen darin, wie präzise Griffe durchgeführt werden können, und wie schnell man zwischen verschiedenen Griffen wechseln kann.

Doch wie sieht es in der Zukunft aus? Können Prothesen irgendwann einmal an echte Hände herankommen oder diese vielleicht sogar übertrumpfen? Schulz gibt eine eindeutige Antwort: „Diese Komplexität von Bewegungen, diese 22 Muskeln, die wir feinfühlig bewegen können: Was die Evolution da in Millionen Jahren hervorgebracht hat, ist technisch nicht nachbaubar. Man kommt mit viel Hightech vielleicht auf 10% der Funktionalität. Unsere Hand liegt vielleicht bei 5%, rudimentäre Prothesen vielleicht bei 0,5%. In der Dimension kann man sich das vorstellen. Es ist aber trotzdem eine gute Alltagshilfe.“

Auch abseits von Handprothesen lässt sich mit anderen technologischen Mitteln der menschliche Körper nur schwer replizieren. Ob Beinprothesen, Exoskelette oder neuronale Schnittstellen zwischen einem Computer und einem menschlichen Gehirn: Möglich ist Vieles, aber ob die Technologie auch wirklich Sinn für die breite Bevölkerung macht, ist eine andere Sache. Schulz: „Ich sehe in den medienwirksamen Versuchen, in denen neuronale Sensoren in Gehirne eingebaut werden, ohne dass es dafür eine medizinische Notwendigkeit gibt, keine Zukunft. Dafür ist die Hemmschwelle der Menschen, sich etwas in ihren Körper einzusetzen, einfach zu gross und der Nutzen zu gering, ganz abgesehen von den damit verbundenen ethischen Fragestellungen.“

Dennoch hat Schulz grosse Pläne für die Zukunft. Er will eine Art Exoskelett für den Oberkörper entwickeln, mit dem nach einem Schlaganfall gelähmte Personen wieder die Möglichkeit bekommen sollen, ihre Arme zu bewegen. Eine ähnliche Technologie gibt es bereits, aber die ist laut Schulz zu gross, klobig und für den Alltag unbrauchbar. Für den CEO wäre der Schritt in Richtung brauchbares Exoskelett für den Oberkörper ein sehr grosser, da es für Vincent Systems einen viel grösseren Markt öffnet. „Der Bedarf an myoelektrisch gesteuerten Orthesen ist weit grösser als der Bedarf an Arm- und Handprothesen“, erklärt er.

Technik mit dem menschlichen Körper zu verbinden und einzusetzen ist auch für Journalist, Autor und Cyborg Enno Park nichts Neues. Der Berliner trägt seit über 20 Jahren ein Cochlea-Implantat in seinem Körper. Davor hat ihn eine Masernerkrankung sein Gehör gekostet. Wir treffen Park online. Auf den ersten Blick wirkt der Autor gar nicht wie ein Cyborg, erst beim genauen Hinsehen kann man auf seinem Kopf das Cochlea-Implantat erkennen.

Ich benutze den Begriff Cyborg zwar immer noch, aber ich denke, dass man dafür nichts in den Körper implantieren muss.

Enno Park

Park studierte Wirtschaftsinformatik und war danach als Softwareingenieur tätig. Heute ist er neben seinem zweiten Studium in Technikphilosophie unter anderem im Verein Cyborg e.V. tätig. Ob er sich deswegen auch als Cyborg fühlt? „Ja und nein“, sagt er lachend. Als Park nämlich kurz vor seiner Operation mit seinen Freunden über das Cochlea-Implantat sprach, brachten diese ihn als Erstes auf die Cyborg-Idee. „Einige meiner Freunde waren vielleicht sogar etwas neidisch, weil sie es einfach cool fanden, dass so ein Stückchen, das entfernt an Cyborgs erinnert, Realität sein kann“, erzählt er schmunzelnd. Mittlerweile ist Park aber etwas von dieser Idee abgekommen, er meint: „Ich benutze den Begriff Cyborg zwar immer noch, aber ich denke, dass man dafür nichts in den Körper implantieren muss.“

Für ihn geht es bei Cyborgs und kybernetischen Organismen um die Verschmelzung von Mensch und Technik. Das passiert auch schon bei alltäglichen Dingen, wie beim Kochen. Erhitzt man Nahrung in einem Topf, so verlagert der Mensch einen Teil seines Verdauungsprozesses nach aussen und greift damit auf Technik zurück. Durch das Erhitzen von Essen kam es unter anderem auch zu kulturellen und körperlichen Veränderungen, die schon seit Jahrhunderten den menschlichen Körper beeinflusst haben, noch bevor das Wort Cyborg überhaupt existiert hat. „Ich glaube, dass die Technik eines der Dinge ist, die uns erst wirklich zum Menschen macht und gemacht hat“, so Enno Park.

Dennoch hat er sich im Laufe seines Lebens neben dem Cochlea-Implantat auch einen NFC-Chip in seine Hand einsetzen lassen. Auf diesen Chips können Daten gespeichert werden, die dann über bestimmte Terminals abgerufen werden können. Dieses Implantat war laut ihm aber eher eine „Spielerei“, weil früher NFC-Chips in der Cyborg-Szene einfach beliebt waren. Diese Chips bieten theoretisch viele Möglichkeiten (Speicherung von Schlüsselkarten, Kreditkarten, wichtigen Informationen etc.), praktisch gesehen sind diese in der heutigen Gesellschaft aber fast sinnlos. „Hier in Deutschland ist einfach nichts wirklich auf solche Body Modifications ausgelegt. Würde ich für ein Gebäude eine Keycard bekommen, könnte ich theoretisch den Portier fragen, ob er die Daten stattdessen auf meine Hand speichern will“, so Park lachend und fügt hinzu: „Dem fehlt dafür aber meistens das technische Know-how.“

Wem das technische Know-how aber nicht fehlt, ist Enno Park. Wenn er könnte, würde er gerne sein Cochlea-Implantat umprogrammieren, um noch mehr Dinge damit tun zu können. Bisher bietet das moderne Hörgerät dennoch Möglichkeiten, die über das menschliche Gehör hinausgehen. So kann er beispielsweise zwischen unterschiedlichen Programmen wählen, die den aufgenommenen Schall anders verarbeiten, oder die Umgebungsgeräusche absenken, sodass er seinen Gesprächspartner in lauten Umgebungen besser verstehen kann. Auch Musikhören ist für Enno Park kein Problem. Dazu verbindet er sein Cochlea-Implantat einfach mit einem Kabel zu einem Kopfhörerausgang. Gerne hätte der Informatiker aber auch die Möglichkeit, selbst auf die Software seines Implantats zugreifen zu können, um diese zu bearbeiten und beispielsweise Infra- und Ultraschall hörbar zu machen. „Die Hersteller wollen nicht, dass man selber irgendwelche Einstellungen oder Veränderungen vornimmt. Teilweise ist das aus Sicherheitsaspekten auch okay, aber wenn jemand das technische Know-how hat, sollte er auch das Recht haben, über ein Gerät, welches ein Teil des eigenen Körpers ist, selber zu verfügen“, erklärt Enno Park.

Dafür setzt er sich auch in dem Verein Cyborg e. V. ein. Die Arbeit des Vereins geht aber über die sogenannten „Cyborg Rights“ hinaus. So erklärt Enno Park: „Wir kämpfen auch für die Rechte der Menschen, die keine Elektronik und Technik in ihrem Körper haben.“ Dazu gehört beispielsweise die Möglichkeit, Technik und Software auf Smartphones und Computer frei zu verändern. „Ich gehe nicht davon aus, dass alle Menschen ihr Auto oder ihren PC selbst reparieren können, aber sie sollten zumindestens das Recht haben, dass zu tun.“ Enno Park macht sehr schnell klar, dass sobald man Technik benutzt, eine Abhängigkeit von den Plattformen und Unternehmen, die diese Technik zur Verfügung stellen, entsteht. So kann beispielsweise Apple entscheiden, was mit einem iPhone gemacht werden kann, oder Amazon kann auf die Bücher in der Kindle-Bibliothek zugreifen und diese von Geräten entfernen. Genauso wie das Wort Cyborg, für Enno Park, auf fast alle Menschen zutrifft, so sind auch die Cyborg-Rechte auf jeden Menschen anwendbar. „Wichtig ist uns auch, dass die Kontrolle über die Technik bei den Nutzenden liegt. Das heisst auch, abschalten können oder entscheiden können, ein Gerät nicht nutzen zu wollen“, so Enno Park.

Stefan Schulz...
...ist der CEO von Vincent Systems. 2009 gründete er das Unternehmen mit dem Ziel, moderne und effiziente Handprothesen zu entwickeln.

Enno Park...
...ist Autor, Journalist, Informatiker und Cyborg. Als er nach einer Masernerkrankung gehörlos wurde, wurde ihm ein Chochlea-Implantat eingebaut. In dem Verein Cyborg e. V. setzt er sich für die Rechte von Cyborgs und „Nicht-Cyborgs“ ein.

Zurück zu Vincent-CEO Stefan Schulz. Sowohl er als auch Park warten noch auf das nächste grosse Ding in Sachen künstliche Implantate. „Es gibt einen Unterschied zwischen dem, das theoretisch möglich ist, und dem, was auch tatsächlich kommerziell genutzt werden kann“, so Stefan Schulz. Elon Musks Neuralink zeigt beispielsweise, dass eine Koppelung von Gehirn und Computer möglich ist. Dennoch sind die Hemmungen für die Bevölkerung, sich einer komplizierten und riskanten Hirn-Operation zu unterziehen, meist zu gross. „Wir sehen, dass die Hemmschwelle für Piercings und Ohrringe bei der allgemeinen Bevölkerung relativ niedrig ist. Wenn es also irgendwann etwas geben wird, das Sinn macht, spannend ist und einfach in den Körper einzusetzen ist, werden bestimmt auch mehr Leute für diese Art von Body Modification zu begeistern sein“, so Park.

Fotos: Verena Müller, Vincent Systems GmbH, Jakob Weber

Anmerkung: Dieser Artikel wurde an einigen Stellen ergänzt und überarbeitet sowie einige inhaltliche Fehler behoben.

Lela Thun,
Redakteurin

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